„Die Mörder ändern mich nicht“

Carolin Emcke war 22 Jahre alt, als ihr Patenonkel Alfred Herrhausen von der RAF ermordet wurde. In einem Essay fordert sie: Lasst die Täter laufen, wenn sie uns ihre Geschichte erzählen. Für den Text erhält sie heute den Theodor-Wolff-Preis

Als Chefredakteur des Berliner Tageblatt sorgte Theodor Wolff (1868–1943) von 1906 bis 1933 für kritischen, sorgfältigen und meinungsstarken Journalismus gegen den sich verbreitenden Ungeist der Zeit. Mit dem Theodor-Wolff-Preis würdigt der Bundesverband Deutscher Zeitungsverleger jährlich laut Ausschreibung „Glanzstücke in Sprache, Stil und Form, die durch gründliche Recherche und eingehende Analyse Zeugnisse einer demokratischen und gesellschaftspolitischen Verantwortung sind“. Das Preisgeld beträgt je 6.000 Euro.

VON RALF GEISSLER

Und dann sah sie plötzlich den Wagen. Einen gesprengten, verkohlten Mercedes, der quer über der Straße in Bad Homburg lag. Rundherum standen Schaulustige, Polizisten und Beamte des BKA. Aber keiner schien sich für die junge Frau zu interessieren, die zwischen Parkhaus und Taunus-Therme wortlos aus einem Taxi gestiegen war und nun auf das zerfetzte Auto zulief. Carolin Emcke weiß selbst nicht mehr, wie sie an jenem 30. November 1989 nach Bad Homburg gelangt ist.

Sie erinnert sich nur noch an das Auto, das quer auf der Straße lag. „Unnatürlich wie ein verrenktes Gelenk, das vom Leib absteht.“ Wenige Stunden zuvor war auf dem Rücksitz ihr Patenonkel verblutet. Der Chef der Deutschen Bank, Alfred Herrhausen. Eines der letzten Opfer der RAF, ermordet durch eine auf einem Fahrradgepäckträger versteckte Bombe.

Stumme Gewalt des Terrors

Herrhausen war ein väterlicher Freund, einer, mit dem sie als Teenagerin stundenlang über Politik diskutierte. Mehr als 18 Jahre hat sie nicht die Kraft gefunden, über den Tag des Attentats zu schreiben. Erst vor einem Jahr konnte Emcke ihre bruchstückhafte Erinnerung in einem Essay für das Zeit Magazin Leben verarbeiten. Er heißt „Stumme Gewalt – Nachdenken über die RAF“. Heute wird sie dafür mit dem Theodor-Wolff-Preis ausgezeichnet.

Ausgerechnet sie, eine Hinterbliebene, fordert in dem Text Freiheit für die Attentäter. Emcke stellt nur eine Bedingung: Reden müssen sie. Öffentlich! Es ist später Vormittag. Carolin Emcke sitzt im Café Luzia in Berlin-Kreuzberg. Blaue Jeans, schwarzes T-Shirt, ein braunes Lederbändchen am linken Handgelenk. Von draußen lärmt die Straße. „Wer nur an Rache und Sühne interessiert ist, wird die Wahrheit nie erfahren“, sagt die 41-Jährige und streift ihre halblangen schwarzen Haare nach hinten. „Die Bundesanwaltschaft hat die letzten RAF-Morde bis heute nicht aufklären können, und sie wird sie vermutlich auch nicht mehr aufklären. Wenn wir den Tätern Straffreiheit versprechen, ist das unsere einzige Chance, die Wahrheit zu erfahren.“

Die Sirene eines vorbeifahrenden Streifenwagens verschluckt fast ihre Worte. Emcke scheint das gar nicht zu merken. Sie spricht über ihr Lebensthema: Gewalt, Traumatisierung, der Umgang mit Tätern und Opfern. Wenige Jahre nach dem Attentat hat sie bei Jürgen Habermas ihre Magisterarbeit über das Recht auf Widerstand geschrieben. „Ich habe nur Autoren diskutiert, die Widerstand und zivilen Ungehorsam legitimieren“, sagt sie. „Das hatte ich mir geschworen. Dass es den Mördern niemals gelingen sollte, mich zu einer anderen, einer weniger offenen, weniger liberalen Person zu machen.“ Trotzdem blieben die Fragen: Wie ist die Entscheidung gefällt worden, ihren Patenonkel zu töten? Wird da abgestimmt? Gab es alternative Kandidaten? Woran denkt jemand, der TNT für eine Bombe präpariert?

Das Schweigen der Täter belastet sie bis heute. Emcke weiß, dass die Antworten wehtun werden. Und sie weiß, dass Kritiker ihr Realitätsferne vorwerfen. Zigfach ist ihr in den vergangenen Monaten gesagt worden, niemals werde der Bundespräsident eine Amnestie gewähren, nur damit die Mörder der RAF mit der Wahrheit herausrücken. Das sei völlig utopisch. Emcke sieht nachdenklich aus. Sie hat die Beine übereinandergeschlagen, nestelt am linken Hosensaum und fragt: „Wann ist Utopie eigentlich zum Schimpfwort geworden? Wir brauchen Utopien. Politik wird immer im Vorgriff auf etwas gemacht, das sein soll. Gesetze und Rechtsinterpretationen sind ja dynamisch und entwickeln sich historisch weiter. Warum soll das also nicht möglich sein: Freiheit gegen Wahrheit?“

Emckes Gedanken über die RAF sind auch als Buch erschienen. „Stumme Gewalt“ (S. Fischer) ist kein kämpferisches Plädoyer, eher ein Text voller Zweifel, der nach dem Sinn von Rache fragt, die am Ende nur neue Gewalt provoziert. Ein Buch, mit dem sie das eisige Schweigen der Täter beenden will. „Erst wenn ich die Wahrheit kenne, kann die Fantasie aufhören, mich zu quälen“, sagt sie. „Ich brauche ihre Geschichte. Denn es ist auch meine.“

Schon zum Zeitpunkt des Attentats hat Emcke nebenbei als Journalistin gearbeitet. Seit ihrer Promotion in Philosophie berichtet Emcke fast nur noch aus dem Ausland – zuerst für den Spiegel, heute für die Zeit. Sie lag im Bombenhagel der US-Luftwaffe im Irak, besuchte Bordelle in Bukarest, berichtete von den Kämpfen in Gaza und aus den Jeans-Fabriken in Nicaragua, in denen die Arbeiterinnen für 20 Cent je Stunde Hosen für den Westen nähen.

Carolin Emcke fährt dorthin, wo andere nur noch weg wollen. Eine Berufsreisende. Eine, die von sich sagt, es sei für sie schwerer, nach Hause zu kommen, als von dort loszufliegen. Ihre größte Stärke ist nicht das Beschreiben, sondern das Reflektieren einer Situation. Das beweist nicht nur ihr Text über die RAF. In Rumänien bot man ihr mal ein Kind an. Emcke stand im Park nahe des Bukarester Bahnhofs. Ihr Blick schweifte kurz über einen dreijährigen Roma-Jungen, als seine Mutter auf sie zukam, um ihr das Geschäft vorzuschlagen: zehn Dollar. Emcke schüttelte den Kopf und fragte sich, wie schauen, damit dieses Kind mit seinen aufgeschürften Knien und dem langen Ärmel in der Hand nicht glaubte, es gefalle ihr nicht.

Später kommt ihr die eigene Empörung über das Kaufangebot völlig verlogen vor. „Während es zunächst ethisch unmöglich erschien, ein Kind zu kaufen, zerschellte diese Erstwelt-Moral an den Erfahrungen, die ich nach nur sieben Tagen in der Kanalisation, in den Bordellen, in den Polizeistationen von Bukarest machen musste“, schreibt Emcke. „Für zehn Dollar hätte ich das Kind besser schützen können vor dem, was ihm nun vermutlich blühen würde. Wer weiß, wer das Geld an meiner statt bezahlen wird.“

Dass Emcke nach Jahren als Auslandsreporterin das Essay über die RAF geschrieben hat, liegt auch an der Bild-Zeitung. Als das Blatt vergangenes Jahr gegen eine Begnadigung von Christian Klar und Birgit Hogefeld polemisierte, ärgerte Emcke, dass die Redaktion für sich in Anspruch nahm, im Namen aller Hinterbliebenen zu sprechen. Emcke will nicht in der Opferrolle verharren. Sie kräuselt die Stirn und philosophiert über den Unterschied zwischen Trauer und Melancholie bei Sigmund Freud. „Bei der Trauer wird uns der Verlust eines geliebten Menschen wirklich bewusst. Wir akzeptieren den Tod, trauernd zwar, aber wir können loslassen. Bei der Melancholie verharren wir in dem Zustand. Wir bleiben gekoppelt an das, was nicht mehr ist, wir können nicht loslassen, nicht weiterleben, finden keinen Zugang mehr zur Gegenwart. Mein Eindruck ist, dass die Öffentlichkeit mit ihrer Hysterisierung der Debatte, aber auch die RAF mit ihrem Festhalten an ihrer Identität des Schweigens nicht zulassen, dass wir trauern. Wir verharren in der Melancholie.“

Auf ihren Reportage-Reisen durch die ganze Welt wurde Emcke oft vom Berliner Fotografen Sebastian Bolesch begleitet. Als er das Café Luzia in Berlin Kreuzberg betritt, lacht Emcke zum ersten Mal übers ganze Gesicht. Die beiden umarmen sich wie alte Freunde. „Dieser Mann“, sagt Emcke, „hat einen nicht zu überschätzenden Anteil an meiner Arbeit. Wir ergänzen uns perfekt.“

Bolesch ist ein jungenhafter Typ. 41 Jahre alt. Rundliches Gesicht. Viele Lachfalten. Ein Tattoo am rechten Oberarm. Sie braucht ihn als Berater, als Korrektiv.

Die Normalität bewahren

„Ich bin über die Jahre immer unsicherer darin geworden, mir ein Urteil zu bilden“, sagt Emcke. „Das ist nicht nur eine Frage der Recherchedauer. Ich bekomme ein immer größeres Gefühl für die Verantwortung, die ich trage. Damit erkennt man aber auch stärker, dass es viele Perspektiven gibt, aus denen man eine Geschichte betrachten kann.“ Beiden gemein ist der Drang in die Ferne. „Wir haben unterwegs immer ein ganz intensives Level an Erfahrungen“, schwärmt Bolesch. „Das macht fast süchtig. Schlimmer als die Arbeit in Krisenregionen finde ich, dass bei der Rückkehr plötzlich alles von einem abfällt. Da bräuchte ich manchmal fast drei Tage Quarantäne.“ Emcke nickt.

Oft schweigt sie nach ihrer Rückkehr über das Erlebte. „Ich will ja auch von meinen Freunden etwas erfahren, und nicht jedes Mal mit Geschichten kommen, die einen solchen Grad an Schwere und Bedeutung haben, dass sie sich nicht mehr trauen, über ihre Beziehungsprobleme zu reden. Ganz häufig erzähle ich deshalb erst einmal nichts, weil ich die Normalität behalten will.“ Statt zu reden, hat sie ihren Freunden Briefe geschrieben. Lange Briefe, die in einem preisgekrönten Buch versammelt sind: „Von den Kriegen“ heißt es.

Nach dem Taxifahrer sucht sie noch immer. Jenem, der sie am Tag des Herrhausen-Attentats wortlos vom Frankfurter Flughafen nach Bad Homburg fuhr. Sie stieg damals aus dem Auto, ohne zu bezahlen. Auch nach Erscheinen des Essays hat er sich nicht bei ihr gemeldet. „Leider“, sagt Emcke. Vielleicht erinnert sich der Taxifahrer ja an Bruchstücke jenes Nachmittags, die in ihrem Gedächtnis fehlen. Vielleicht würde er ja mit ihr reden wollen. Über den Tag, als der verkohlte Mercedes quer auf der Straße stand.