berliner szenen Radieschen und Rollläden

Schnee drüber

Jetzt geht alles einfach nur weiter. Die Tage liegen da wie eine weite Ebene, an der kein Weg vorbei führt, weil da überhaupt kein Weg ist. Die Temperaturen fallen auf minus sechs Grad und werden danach wieder steigen. Der Gemüsehändler sitzt in seinem Laden und sieht dem Gemüse beim Verdorren zu. Nichts welkt putziger als Radieschen. Radieschen sind die Eichhörnchen unter den Gemüsen. Und Eskimos sind die Delfine der Linguisten, aber das spielt hier keine Rolle.

In Pittys kleinem Fleischerlädchen hat seit fünf Wochen niemand mehr die Rollläden hochgezogen. Womit vertreiben sich die dicken Fleischerinnen jetzt die Zeit? Der Comicladen ist leer geräumt. Das war ein langer Prozess der Entleerung. Am Ende kamen die eigenartigsten Dinge zum Vorschein. Der Bodensatz, Sexheftchen, durchgeknallte Gothic-Steh-Rümmchen für das Waver-Buffet, Unbrauchbares mit anzüglichen Aufschriften. Das waren gewiss unglaubliche Schnäppchen.

Das Sonnenstudio steht zum Verkauf, aber bis dahin kann man sich darin sonnen und danach vielleicht auch. Man weiß es nicht. Es gibt so viele Möglichkeiten des Misslingens. Und wenn sich der Blick einmal für das Scheitern geschärft hat, was natürlich nicht gut ist, sondern falsch, scheint es überall zum Vorschein zu kommen. Es hatte sich nur getarnt. Dann ist der Abhang überall. Manches hält sich in der Schräge, anderes nicht mehr, kommt ins Gleiten und kugelt hinab, immer hinab, in ein tiefes, tiefes Tal. Für jedes Begehren stehen schon ganz zu Anfang melancholische Verkapselungen bereit. Das ist natürlich nur eine Sache der Perspektive, der falschen Perspektive, und der Schnee fällt darüber und die Stadt verstummt. MONIKA RINCK