Die Schneewittchen-Falle

Stiefmutter, Stiefvater, Stiefgeschwister: die Vorsilbe Stief- wurde bereits im Althochdeutschen zur Bezeichnung von nicht leiblichen Verwandtschaftsbeziehungen gebraucht, abgeleitet von ar-, bistiufen – was beraubt, verwaist bedeutet.

„Da erzählte es ihnen, dass seine Stiefmutter es hätte wollen umbringen lassen, der Jäger hätte ihm aber das Leben geschenkt.“ Ob in Schneewittchen, Aschenputtel oder Frau Holle – die Brüder Grimm haben mit ihren Volksmärchen das Bild der bösen Stiefmutter geprägt: „Sie ist die dunkle Seite, der Schatten der Mutter. Als bedrohliche Figur besteht eine gewisse Verwandtschaft zwischen der Stiefmutter und der Hexe, der Zauberin oder Riesin, schreibt Felix von Bonin in seinem „Kleinen Handlexikon der Märchensymbolik“.

In den mündlich verbreiteten Märchen, die von den Brüdern Grimm gesammelt und aufgeschrieben wurden, existierte die Rolle der Stiefmutter nicht. Auch in der Urfassung der Grimm’schen „Kinder- und Hausmärchen“ von 1812 war noch die leibliche Mutter die Böse – sieben Jahre später wurde sie von der Stiefmutter ersetzt, um der damals einsetzenden Idealisierung von Mutterschaft und Mutterrolle gerecht zu werden.

Einfach wie im Märchen ist die Rollenverteilung in der modernen Stieffamilie nicht. Die Komplexität dieser Familiensituation zeigt sich in der Vielzahl ihrer Formen. Verschiedene Typen lassen sich unterscheiden nach ihrer Vorgeschichte (Scheidung, Verwitwung, nichteheliche Mutterschaft), den Partnerkombinationen (lediger Mann – geschiedene Frau, verwitweter Mann – ledige Mutter, et cetera), den Kinderkonstellationen (beide Eltern bringen Kinder in die Ehe mit, ein leibliches Kind des Vaters – zwei gemeinsame Kinder, et cetera), den Sorgerechtskombinationen (gemeinsames oder alleiniges Sorgerecht) und dem Gründungsmuster (Zweitehe nach längerer Zeit der Alleinerzieherschaft, neuer Partner als Trennungsgrund in der Erstehe).

Die sinkende Zahl an Ersteheschließungen, eine steigende Scheidungs- und Wiederverheiratungsquote (Scheidungen 2000: 36 Prozent) haben in Deutschland ein neues Konzept von Familie forciert: Stiefkinder und Stieffamilien werden immer zahlreicher; die Patchworkfamilie ist Teil unserer sozialen Realität. Stieffamilien werden im bürgerlichen Gesetzbuch nicht mit einem eigenen Regelungskomplex bedacht. Grundsatz: Stiefkinder sind mit ihrem Stiefelternteil nicht verwandt. So behalten sie nach Scheidung der Eltern und auch nach Wiederheirat eines Elternteils ihren Geburtsnamen. Erst die Kindschaftsreform von 1998 hat dem sorgeberechtigten Elternteil und dem Stiefelternteil die Option eröffnet, dem Kind den neuen Familiennamen zu geben.

Spannungsgeladen ist die Situation zwischen Stiefelternteilen, bei denen das Kind lebt, und dem sorgeberechtigten leiblichen Elternteil auch in der Frage des Sorgerechts. Es lohnt ein Blick über die Grenze: Im Schweizer Recht ist eine Beistandsstellung des Stiefelternteils für das Kind geregelt; in England gibt es auf Antrag eine Vormundschaft des Stiefelternteils für das Kind, und in Australien entsteht ein Sorgerechtsanspruch bei der Eheschließung mit dem leiblichen Elternteil. In Deutschland haben Stiefelternteile seit der Einführung des Gesetzes zur Eingetragenen Lebenspartnerschaft für das nicht leibliche Kind ein so genanntes „kleines Sorgerecht“ fürs tägliche Miteinander. HEIKE SCHMITT