Das Laboratorium der Völkerfreunde

Im russischen Riesenreich bestimmt bis heute der Konflikt zwischen den Provinzen und der Zentrale die Politik. Putin löst dieses Problem mit Diplomatie – und Gewalt. Die Grenzen dieses Konzepts zeigt Michael Thumann auf

Wann nimmt die deutsche Öffentlichkeit die Situation in Russland schon mal aufmerksam wahr? Wohlwollend dann, wenn der amerikanische Präsident die Einheit im Kampf gegen den Terror beschwört und dazu seinen russischen Partner brüderlich umarmt. Oder wenn zu Weihnachten Bilder von den Männerfreunden Gerhard Schröder und Wladimir Putin die Herzen erwärmen.

Kritisch dann, wenn die Aktion eines tschetschenischen Todeskommandos mitten in Moskau oder in Grosny, der Hauptstadt Tschetscheniens, in Erinnerung ruft: Hier tobt seit Jahren ein mörderischer Krieg. Ein Krieg, dessen Opfer vor allem Zivilisten sind, Tschetschenen wie Russen.

Jenseits solcher Nachrichten herrscht Ruhe – und Unsicherheit. Das Gros der akademischen Russlandspezialisten und deutschen Außenpolitiker zögert, deutliche Einschätzungen abzugeben, greift die russische Propagandaformel von der gelenkten Demokratie auf und bescheinigt Putin Realitätssinn und Berechenbarkeit.

Hier geht die Monografie von Michael Thumann weiter. Der ehemalige Korrespondent der Zeit hebt das Ringen um den föderativen oder zentralistischen Charakter des russischen Riesenreichs hervor, den Kampf der Moskauer Zentrale mit den Provinzen.

Der mit autokratischen Machtvollkommenheiten versehene russische Staatspräsident Putin erscheint bei Thumann nicht einfach als effizienter Modernisierer, der Korruption und Chaos erfolgreich bekämpft. Er wird als machtbewusster Stratege vorgestellt, der mittels populistischer Parolen von der „Sammlung der heiligen russischen Erde“ erneut das Land als Weltmacht beschwört. Das Porträt Peters des Großen über seinem Schreibtisch ist kein zufälliges Symbol. Wie sein großes Vorbild verbindet Putin den Modernisierungsanspruch und die erklärte Öffnung nach Europa mit der eisernen Faust nach innen.

Der genauere Blick auf Putin führt für Thumann keineswegs zu einer Idealisierung der Ära Jelzin. Dessen zunehmende Schwäche und Zerrissenheit, seine mehr als fragwürdige Rolle beim Ausbruch des ersten Tschetschenienkrieges 1994, das Taumeln zwischen den Interessen des Familienclans, den diversen Beratern und Einflussgruppen – das alles wird nicht ausgespart.

Dennoch zeichnete sich für das scheinbar auseinander fallende Reich in dieser Zeit eine Balance ab, die den Interessen der Provinzen zunehmend gerecht wurde. Russland begann sich als fragilen Vielvölkerstaat zu begreifen und die Identität seiner Bürger nicht mehr an die klassischen Attribute russisch-zentralistischerTradition zu binden. Provinzgouverneure entwickelten sich von Statthaltern Moskaus zu Pionieren regionalen Eigensinns – von denen einige allerdings im Sumpf von Bereicherung und Korruption versanken.

Um Putins Leistungen besser herauszuarbeiten, widmet Thumann dem Kampf zentralistischer und föderativer Tendenzen in der russischen Geschichte und der Sowjetunion als „Laboratorium der Völkerfreundschaft“ jeweils eigene Kapitel. Er entgeht so auch der Gefahr, sowjetische und postsowjetische Geschichte auf Konfliktmuster zwischen Personen (Lenin versus Stalin, Jelzin vs. Putin) zu reduzieren. Der rote Faden seines historischen Durchgangs sind die gleichen Fragen, die russische Reformdenker lange vor der Februar- und der Oktoberrevolution ebenso stellten:

Lässt sich Russland mit seiner gewaltigen Landmasse und der multiethnischen Vielfalt anders als mit autokratischen Mitteln nach innen und mit imperialem Anspruch nach außen legitimieren und zusammenhalten?

Kann Russland wirklich ein Rechtsstaat und eine Demokratie werden – und ein Nationenverständnis entwickeln, das Gleichberechtigung und Kooperation an die Stelle von Über- und Unterordnung setzt? Fragen, die auch für das Schicksal und die Existenz von Russlands Nachbarstaaten von entscheidender Bedeutung waren und sind.

In der Darstellung aktueller Entwicklungen greift Thumann vier Provinzen Russlands heraus: den Konfliktherd Tschetschenien im Nordkaukasus, Tatarstan, Jakutien und Burjatien. Sie berufen sich im Kampf um Autonomie auf die eigene Sprache, Religion und kulturelle Tradition, um bessere Bedingungen gegenüber der Zentrale oder das Recht auf Eigenständigkeit zu erlangen. Moskaus Antwort unter Putin ist der Versuch, die locker gewordene Leine wieder fester anzuziehen: Entmachtung der Provinzgouverneure und der regionalen Einflussgruppen, Assimilationsbestrebungen und der Schulterschluss mit der orthodoxen Kirche, ökonomischer und militärischer Druck.

Zugleich zeigen sich – wie immer in der russischen Geschichte – die Grenzen des Zentralismus: Putin kann nicht verhindern, dass viele Menschen Sibirien aufgrund der Wirtschaftskrise verlassen. Das einmal gewachsene Netz neuer Provinzbeziehungen lässt sich nicht vollständig zerschlagen. Die Bemühungen um die Wiedereinführung des kyrillischen Alphabets in Tatarstan sind zum Scheitern verurteilt. Der Krieg in Tschetschenien lässt sich mit militärischen Mitteln nicht gewinnen.

Ein wesentlicher Vorzug von Michael Thumanns Buch ist, dass er bei aller Skepis gegenüber dem Putin’schen Erfolgsmodell die Frage nach dem Schicksal seiner Politik nicht endgültig zu beantworten sucht. Die Deutlichkeit des Blickes und des Fragens kann jedoch allen an diesen Themen Interessierten weiterhelfen.

WOLFGANG TEMPLIN

Michael Thumann: „Das Lied von der russischen Erde. Moskaus Ringen um Einheit und Größe“, 277 Seiten, DVA, München 2002, 19,90 €