Zeige deine Wunden

Auf der Suche nach körperlichen Defekten: Gesundheit ist für unser Gesundheitssystem gar kein positiver Wert. Interessiert ist es an Krankheiten – weil es wachsen muss. Systemtheoretische Anmerkungen zu einem Ressourcen verschlingenden Moloch

von PETER FUCHS

Das Gesundheitssystem scheint eine der großen Unsteuerbarkeiten der modernen Gesellschaft zu sein, ein Ressourcen verschlingender Moloch, dessen offenbar niemand mehr Herr oder Herrin wird. Wer das versucht, verwickelt sich ins Spiel wohldefinierter, aber gegenläufiger Interessen. Das Problem ist, dass irgendwie alle, die das Spiel mitspielen – Ministerinnen, Krankenkassen, Ärzte –, auf irgendeine Weise von ihrem Standpunkt aus Recht haben. Aber diese Standpunkte lassen sich nicht in eine zwanglos einsichtige Richtigkeit hineinverrechnen, von der aus sich sagen ließe: So oder so müsse das moderne Gesundheitssystem funktionieren.

Unter solchen Voraussetzungen kann man fragen, ob vielleicht die Beobachter des Systems auf Unschärfen auflaufen, die die Bedingung der Möglichkeit seines Funktionierens sind. Es könnte ja sein, dass die Beobachter zu aufgeregt sind, zu gremienversessen, zu steuerungsgläubig, um die blinden Flecke des Systems noch in die Sicht zu bekommen. Ein wenig Ruhe und Trockenheit wäre möglicherweise nützlich, eine Art Nachdenken im Lesesessel, das sich durch die Anmeldung von massenmedial wirksamen Dringlichkeiten nicht sofort düpieren lässt.

Verfährt man so, sieht man schnell, dass das System sich durch einen Begriff definiert, der selbst nicht definiert ist. Niemand weiß, was Gesundheit ist, weder der, der nicht raucht, noch der, der raucht; weder der, der Fleisch isst, noch der, der lieber die Leiden des Gemüses in Kauf nimmt. Man kann nicht sagen, dass es unter allen Voraussetzungen ein Zeichen von Gesundheit sei, abends durch Dörfer zu joggen mit blinkenden Lichterkronen auf dem Kopf, um nicht überfahren zu werden, oder dass ein kurzes, aber intensives Leben weniger gesund gewesen sei als ein langes und ereignisloses. Der Gesundheits- und Körperwahn der modernen Gesellschaft hat, wie man weiß, längst bizarre Formen angenommen, und das ist (etwa zum ökonomischen Nutzen vieler Firmen) nur möglich, weil das, was Gesundheit sein könnte, wundervoll unklar ist. Sagt man, Gesundheit sei die Abwesenheit aller Leiden, ein körperliches und geistiges Wohlbefinden, muss man recht stumpfe, egozentrierte Lebewesen vor Augen haben, die weder zu einer anständigen Melancholie noch zu einem ernsthaften Kater, weder zu kräfteverzehrenden Leidenschaften noch zu irgendwelchen anderen Abenteuern in der Lage sind – also die Ödnis par excellence.

Nun nennt sich ein ganzes System nach diesem Unbegriff „Gesundheit“. Man müsste schier darüber verzweifeln, wenn man nicht (in gut systemtheoretischer Manier) davon ausgehen könnte, dass Systeme sich nicht über Einheitsbegriffen aufbauen, sondern über – wenn man so sagen darf – Einheitsdifferenzen. In allen großen Funktionssystemen der modernen Gesellschaft finden sich Leitunterscheidungen (Codes) dieses Typs. In der Wissenschaft wäre der Code wahr/unwahr, im Rechtssystem Recht/Unrecht, in der Wirtschaft Zahlung/Nichtzahlung, im Intimsystem Wir-zwei/Rest-der-Welt, und so weiter.

Das Gesundheitssystem hat – folgt man dieser Überlegung – nicht im mindesten mit Gesundheit zu tun, sondern mit der Leitunterscheidung zwischen krank und gesund. Die Unterscheidungsseiten sind dabei alles andere als identisch mit sich aufdrängenden Körper- und Geisteszuständen, die man als krank oder gesund bezeichnen könnte. Denn diese Zurechnungen auf krank oder gesund sind schon eine kommunikative Leistung des Systems, das – wenn Krankheit markiert wird – Handlungsketten auslöst, die im eigentlichen Sinne kostenträchtig sind.

Schon diese Annahme führt schnell zu der Einsicht, dass es nicht unbedingt die Körper (oder die Psychen sind), die diesen Aufwand des Systems erzwingen, sondern zunächst die systeminternen Strategien der Markierung als gesund oder krank selbst. Was als gesund oder krank gilt, legt das System fest, es konditioniert sich dadurch selbst. Kein Politiker, kein Ökonom, kein Theologe, schlicht niemand kann außerhalb des Systems diese Markierung vornehmen. Deshalb muss man nicht fragen, ob die Leute gesünder oder kränker sind, als sie es früher waren, sondern vielmehr, welche Krankheits- und Gesundheitszumutungen das System auswirft, was es als Krankheit definiert und woraufhin es deswegen (!) seine Umwelt auf bearbeitbare Fälle hin durchfahndet.

Dieser Sachverhalt wird noch deutlicher, wenn man darauf achtet, dass der Code des Gesundheitssystems eine seltsame Eigentümlichkeit hat. Üblicherweise sind die Codes nämlich asymmetrisch. Einer der beiden Werte wird bevorzugt. Man will lieber Wahrheit als Unwahrheit, lieber Recht als Unrecht, lieber Zahlung als Nichtzahlung, lieber liebend zu zweit sein, als sich mit dem Rest der Welt befassen zu müssen. Es gibt also je einen positiven, anschlussfähigen Wert und einen, der anzeigt, dass es auch anders sein könnte, aber möglichst nicht sein soll.

Versucht man nun, den positiven Wert des Codes krank/gesund zu fixieren, so stößt man auf einen frappierenden Befund: Der für den Alltagsverstand negative Wert Krankheit ist im System der positive Wert, der für den Alltagsverstand positive Wert Gesundheit der für das System negative Wert. Das System, heißt das, kann nur mit Krankheiten arbeiten (die es im Plural gibt) und nicht mit Gesundheit (die es nur im Singular gibt).

Krankheit und immer nur Krankheit liefert die im System abarbeitbaren Anschlüsse. Und da alle Funktionssysteme nicht dazu neigen, sich selbst zu verhindern, muss auch dieses System auf immer neue Anschlüsse achten, also vor allem dann auf die Erwirtschaftung von Krankheiten bedacht sein, wenn Erfolge der Krankheitsbekämpfung sich einstellen. Es muss trotzdem wachsen, und es tut dies mit kaum noch überbietbaren Formen diagnostischer Verfeinerung, die – um nur ein Beispiel zu nennen – sogar die Wechseljahre des Mannes zum medizinischen, also defektologischen Problem macht.

Eine Systemraffinesse ist es dann, den Gesundheitswert im Bereich des Nichthinterfragbaren zu halten, wiewohl er gar nicht bestimmt werden kann. Damit erspart sich das System – der Systemtheorie zufolge – Reflexionskosten. Gesundheit (als diffuser Wert) ersetzt die Mühe der Reflexion. Denn dies ist allenthalben geradezu dogmatisch klar, dass man gesund sein zu wollen hat, obwohl das System nur die Defekte in die Sicht bekommt, durch deren Entdeckung und Behandlung es sich fortwährend erzeugt.

Das erklärt, dass es ein nachgerade glänzender Resonanzboden für Zivilisationserkrankungen ist. Und es erklärt auch, dass Probleme auftreten, wenn der Gegenwert „Gesundheit“ plötzlich enger gefasst werden muss, zum Beispiel dadurch, dass genetische Bedenklichkeit oder Unbedenklichkeit, die bescheinigt werden kann, das Geborenwerden von Leuten verhindert, die – ließe man sie zur Welt kommen – nach einer gesunden Lebenszeit erkranken würden. Das Gesundheitssystem, das Krankheitssystem heißen müsste, kann den daraus entstehenden Reflexionsbedarf nicht mehr aus Bordmitteln bestreiten.

Man müsste jedenfalls den Ministerien, der Expertokratie, den Funktionären ins Stammbuch schreiben, dass Sozialsysteme wie das System der Krankenbehandlung nicht einfach nur „sozial“ im Sinne von nett, freundlich, nützlich sind. Tatsächlich sind es monströs autonome Domänen, die auf Intervention nur mit Irritation reagieren, also mit der Fortsetzung des Aufbaus eigener Strukturen.