Dunkle Zeiten für Pjöngjang

Besuchern wird weiter stolz von den Heldentaten des lieben Führers Kim Il Sung berichtet

von ANDRÉ KUNZ

Halb sechs Uhr abends in Pjöngjang, es ist Stoßzeit in den dürftig beleuchteten Straßen der nordkoreanischen Hauptstadt. Menschen hasten nach Hause. Nicht weil eine warme Mahlzeit oder eine geheizte Wohnung auf sie warten – sie wollen noch vor der Stromsperre um sechs den Aufzug in ihren Hochhäusern erwischen, um nicht über die Treppe die zwanzig und mehr Stockwerke hochsteigen zu müssen.

„Die nächtlichen Stromausfälle haben sich in letzter Zeit dramatisch gehäuft in den Wohnblöcken rund um unser Büro“, berichtet ein Schweizer Entwicklungshelfer, der bis Ende Dezember im Zentrum Pjöngjangs gearbeitet hat. Von der so genannten Nuklearkrise hatte er hier nur durch besorgte E-Mails aus der Heimat erfahren.

Das Leben geht weiter in Pjöngjang, nur um eine Spur härter. Selbst der Schweizer glaubte seinen Mitarbeitern zunächst, als sie ihm die unterkühlten Räume und die Stromausfälle mit den ungewöhnlich tiefen Wintertemperaturen erklärten. „Felsenfest“ seien sie von der offiziellen Begründung für die Stromausfälle überzeugt gewesen. Erst als im staatlichen Fernsehen über erste Protestkundgebungen gegen die USA berichtet wurde, merkten die Menschen in Pjöngjang, dass die Spannungen auf der koreanischen Halbinsel wieder zugenommen haben. Das war vor anderthalb Wochen.

Die Menschen in der Hauptstadt ahnen wenigstens etwas davon, dass ihr Land derzeit im Zentrum der internationalen Aufmerksamkeit steht. Der Rest des Landes kaum. Ab vierzig Kilometer außerhalb Pjöngjangs herrschen derzeit nur noch bittere Kälte und Not, schildert Urs Pfister. Der Molkereifachmann hat bis vor einem Jahr für ein schweizerisches Entwicklungsprojekt in der nordostkoreanischen Provinz Süd-Hamnung eine Ziegenmolkerei aufgebaut. „Im Moment ist es dort wie das Leben auf 2.000 Meter Höhe in den Alpen. Nur ohne Heizung, ohne genügend Nahrung und ohne Schnee, der wenigstens das Dach gegen die Kälte dämmen würde.“ Pfister war einer der wenigen ausländischen Entwicklungshelfer, die regelmäßig über längere Zeit auf dem Lande lebten und die Not der Bauern hautnah erlebten. Nur eine Tagesreise von Pjöngjang entfernt und in einem eigentlich fruchtbaren Gebiet gelegen, gilt die Provinz Süd-Hamnung als gut erschlossen. Pfister erzählt, wie erstaunt er war, als er zu Beginn seines Einsatzes einmal keine Nahrungsmittel mitbrachte und zusehen musste, wie sich das halbe Dorf darum bemühte, mindestens für ihn eine warme Mahlzeit am Abend zusammenzubekommen. „Die Nordkoreaner sind so gastfreundlich, sie erachten es als selbstverständlich, den Gast gut zu bewirten, während sie selbst hungern“, erzählt Pfister. Allein, die Anstrengung nützte wenig, Pfister hungerte mit und vergaß danach nie mehr, Proviant mitzubringen.

In Pjöngjang mästet der Fahrer von Pfister in seiner Zwei-Zimmer-Plattenbauwohnung Kaninchen, manche Mieter halten sogar ein Schwein auf dem Balkon. Besucher von Pjöngjang werden morgens um halb sechs nicht vom hupenden Verkehr wie in anderen Großstädten, sondern von krähenden Hähnen und gackernden Hühnern in den umliegenden Wohnblöcken geweckt. Die rustikale Idylle trügt: Ohne die jährlichen 1,5 Millionen Tonnen Getreidehilfe aus dem Ausland kann dieses Land seine Menschen nicht mehr ernähren. Inzwischen bezweifelt niemand mehr, dass zwischen 1995 und 2001 mindestens zwei Millionen Nordkoreaner an den Folgen von Unterernährung gestorben sind. Laut einer UNO-Schätzung ist die durchschnittliche Lebenserwartung von 66,8 Jahren im Jahr 1993 auf 60,4 Jahre in 2001 gefallen. Eine derart drastische Veränderung in der Bevölkerungsstruktur erleben sonst nur Staaten, die einen Krieg durchgemacht haben.

Aber selbst jetzt, in diesem harten Winter, erzählen die Dolmetscher der staatlichen Reiseagentur den Besuchern stolz von den Heldentaten des lieben Führers Kim Il Sung und seines Sohnes Kim Jong Il. Wer nicht andächtig den Kopf neigt vor der riesigen Bronzestatue des Staatsgründers, wird argwöhnisch betrachtet. Mehr als hundert gigantische Monumente zu Ehren Kim Il Sungs und seines Sohnes, zu Ehren der Arbeiterpartei und zu Ehren der Nationalideologie Juche, die dem Volk weismacht, dass nur die vollständige Autarkie des Landes den Weg ins Arbeiterparadies ebnet, ragen als imposante Werke stalinistischer Betonkultur in den klirrend kalten Winterhimmel Pjöngjangs.

Diese Beton- und Stahlskulpturen sind zugleich Symbole eines katastrophal fehlgeleiteten Planwirtschaftssystems, das trotz grober Fehler in der Vergangenheit noch immer an den Bedürfnissen der Menschen vorbeiplant. Nordkorea hatte im Juli 2002 die ersten zaghaften Schritte Richtung Wirtschaftsreformen gemacht: Die Preise für Reis und andere Grundnahrungsmittel wurden erhöht, das Rationierungssystem teilweise abgeschafft. Zugleich erhöhte die Regierung die Löhne der Arbeiter und Angestellten und schwächte den Won gegenüber harten Währungen wie Dollar und Euro ab. „Der Schwarzmarkt hat diese Reform diktiert. Es schien, als ob die Führung einen Versuch unternimmt, die Realitäten in der Volkswirtschaft anzuerkennen“, sagt Yoon Duk-ryong, Volkswirt am Institut für Internationale Wirtschaftspolitik in Seoul. Das Institut ist bekannt für seine Studien zum Wiederaufbau Nordkoreas. Dabei geht es um ein einziges Ziel: die Kosten für eine allfällige Wiedervereinigung auf der koreanischen Halbinsel auf das Minimum zu reduzieren. „Die Erfahrungen der deutschen Vereinigung waren für uns wertvoll. Sie haben gezeigt, dass wir nie eine Vereinigung nach diesem Muster anstreben dürfen“, erklärt Yoon.

Während die Volkswirte in Südkorea hauptsächlich nach Entwicklungs- und Vereinigungsszenarien suchen, die Nordkorea eine weiche Landung ermöglichen sollen, begeht die Führung in Pjöngjang einen Fehler nach dem anderen. Das plötzliche und politisch motivierte Verbot der US-Währung im Oktober etwa brachte im Inland ein ohnehin labiles Gleichgewicht zwischen dem Schwarzmarkt und der staatlichen Versorgung ins Wanken.

„Die sinnlose Anordnung, nur noch den Euro anzuerkennen, roch stark nach einem faulen Trick des Regimes, um Hand an die in Dollar oder chinesischen Yuan gehorteten Privatvermögen der Bevölkerung legen zu können“, sagt ein europäischer Entwicklungshelfer, der schon drei Jahre im Land lebt. Auch die gescheiterte Etablierung einer Sonderwirtschaftszone in Sinnuiju an der chinesischen Grenze hat gezeigt, wie wenig die Nordkoreaner selbst von ihren Freunden in Peking wissen. Die Zone lag erstens genau gegenüber einer strategisch wichtigen Militäranlage Chinas und zweitens wollten die Nordkoreaner mit Yang Bin einen höchst umstrittenen chinesischen Unternehmer als Verwaltungsbevollmächtigten einsetzen. Das Veto Chinas kam in subtiler Form: Yang Bin wurde kurzerhand wegen Steuerhinterziehung verhaftet, das Projekt ist damit so gut wie gestorben.

Für wirtschaftliche Reformexperimente wurde die Luft richtig dünn, als im November die USA, zusammen mit den anderen Vertragspartnern des Kedo-Abkommens von 1994, die Schweröllieferungen stoppten, weil Pjöngjang indirekt ein geheimes Programm zur Herstellung von waffenfähigem Uran zugegeben hatte. Durch die schrittweise Eskalierung des Streites durch Pjöngjang und die unklare Haltung Washingtons sind die Wirtschaftsreformen heute noch weiter in den Hintergrund gerückt. „Die Situation ist kritisch geworden, weil Nordkorea auch ohne äußere Bedrohung oder wirtschaftliche Sanktionen schon am Rande des Kollapses steht“, warnt Park Sung-hoon, Berater des scheidenden südkoreanischen Präsidenten Kim Dae Jung.

Doch die Anhänger der Entspannungspolitik im Süden geben nicht auf. Südkoreas Investoren lassen trotz Kriegsrhetorik schweres Baugerät Richtung Kaesong im Südosten Nordkoreas fahren. Hier soll auf vierzig Quadratkilometern eine Sonderwirtschaftszone entstehen. Neun Milliarden Euro werden bis 2010 investiert, um 3.000 Fabriken, 100.000 Wohnungen und 1.000 Hotelzimmer, ein riesiges Shoppingcenter und einen Golfplatz aus dem Boden zu stampfen. Das Projekt ist der Start eines südkoreanischen Investitionsplanes, der für Nordkorea ein jährliches Wachstum von 7 Prozent voraussieht. Dafür müssten ab sofort jährlich zwei Milliarden Euro an Auslandsinvestitionen ins Land fließen. Das würde reichen, um das Prokopfeinkommen bis 2008 auf 1.000 Euro zu heben und die Selbstversorgung des Landes wieder zu sichern. In Pjöngjang gehen die Lichter wohl noch für ein paar Wochen nachts aus. Die frierenden und hungernden Menschen auf dem Lande wissen nichts von den Plänen in Seoul und Pjöngjang, die ihr Leben verändern sollen.