Macht hält jung

„Alte verkalkte Männer, die nicht wissen, was sie tun, und finstre Gesellen, die kein Geld ausgeben wollen“

von BARBARA BOLLWAHN
DE PAEZ CASANOVA

Rechthaberischer Patriarch. Autoritärer alter Mann, der nicht von der Macht lassen kann. Chef eines Geheimzirkels, der den Tod von Menschen in Kauf nimmt. Karl Jung sagt: „Wenn mir jemand die Pest an den Hals wünscht, regt mich das nicht besonders auf.“

Karl Jung, Staatssekretär a. D. und 72 Jahre alt, wird oft angegriffen. Das liegt daran, dass er Vorsitzender des 1955 gegründeten Bundesausschusses für Ärzte und Krankenkassen ist. Kein Gremium der deutschen Gesundheitspolitik ist so umstritten wie der Ausschuss, den Jung seit 1997 leitet. Die ehrenamtlichen Ausschussmitglieder, neun Ärzte, neun Vertreter der Krankenkassen und drei unabhängige Mitglieder, entscheiden, welche Arzneien und Therapien die Kassen übernehmen und welche nicht, und sie stufen Arzneimittel als wirtschaftlich oder unwirtschaftlich ein. 21 Männer befinden darüber, ob die Kassen für Akupunktur, häusliche Krankenpflege, homöopathische oder anthroposophische Behandlungen, Viagra, Ponyreittherapien oder Heroinsubstitution zahlen oder ob der Patient die Kosten selber tragen muss.

An Weisungen ist Jungs Ausschuss nicht gebunden. Die Beratungen finden unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Das bringt den Mitgliedern den Vorwurf ein, einseitige Funktionärsinteressen zu vertreten und systematisch gegen Innovationen und bewährte Naturheilverfahren zu entscheiden, eine absolutistisch anmutende Nebenregierung zu sein.

Er sitzt an einem langen Tisch in einem nüchternen Sitzungsraum in einem vierstöckigen Neubau in Siegburg, einer Kleinstadt in der Nähe von Bonn. Das Gebäude liegt auf einem Hügel, wenige Meter entfernt vom TÜV. Jung trägt einen grauen Anzug, ein weißes Hemd und eine Krawatte in Blau und Weinrot mit kleinen goldenen Kronen. Er ist nicht sehr groß, von kräftiger Gestalt und erinnert mit seinen kleinen Augen unter buschigen Augenbrauen und dem Doppelkinn an Franz Josef Strauß. Wie der kann auch Jung poltern, wenn es drauf ankommt. Aber seit einem Herzinfarkt vor einem Dreivierteljahr muss er vorsichtig sein. Manchmal hält er für einige Sekunden die Augen geschlossen. Dann zittern die Lider leicht. Er spricht weiter, als wäre nichts.

Jung könnte den Ruhestand genießen, in den er vor sechs Jahren gegangen ist. Aber er kann nicht aufhören. Wie sein Großvater, ein Bäcker in Hessen. „Mein Großvater war ein besessener Handwerksmeister“, sagt er. „Er hat bis zum 80. Lebensjahr Backöfen konstruiert.“ Auch Jungs Vater war Bäcker. Er schickte den Sohn als einziges der fünf Kinder aufs Gymnasium, später studierte er, der Älteste, Jura. Während des Studiums stand Karl Jung jeden Samstagmorgen in der Backstube. Er legt Wert darauf, das zu erzählen.

Er macht das jahrgangsbeste Examen in Hessen, wird nach dem Studium zunächst Richter. Dann, mit 31, lädt ihn das Bundessozialministerium zu einem Vorstellungsgespräch ein. Wegen eines Schneesturms kommt er vier Stunden zu spät. Als er eintrifft, ist der Ministerialdirektor nicht böse und schenkt Jung einen Kognak ein. Jung schildert das so beeindruckt, als sei es gestern gewesen.

35 Jahre hat er sich von da an mit Gesundheitspolitik beschäftigt. 1996 ging er in Pension. Offiziell. Zurzeit ist er Vorsitzender des Bundesausschusses, Mitglied in mehreren Landespflegeausschüssen und Landesschiedsstellen, Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Koordinierungsausschuss, zu der der Bundesauschuss der Ärzte und Kassen und der Ausschuss Krankenhaus gehören, Berater in Fragen der Sozialversicherung. Das Umschalten von 15 bis 16 Stunden auf null schien ihm nicht der richtige Übergang. „Das ist wie: ‚ein bisschen schwanger‘. Das geht auch nicht.“

Auch zu Hause arbeitet er, liest Fachzeitschriften und Gerichtsentscheidungen und schreibt Pressemitteilungen. Um „en jour“ zu bleiben und „zur Erholung“. Warum tut er sich das an, zumal nach einem Herzinfarkt? Ist er süchtig? Jung schüttelt leicht genervt den Kopf und antwortet: „Wenn man mitmischen will, muss man wissen, was läuft.“ Jung will mitmischen.

Er ist einer der Politiker und Beamten, die ihre Karriere unter Adenauer begonnen haben und zu deren Auffassung von Pflichtbewusstsein es gehört, sich einen Dreck um Kritik zu scheren.

Immun ist er aber nicht. Das zeigt sich zum Beispiel, wenn man ihn nach einem Artikel im Spiegel von 1996 fragt. Der Bericht über die Bereicherung von Politikern begann damit, wie Jung sich als Staatssekretär von einem japanischen Fernsehsender ein Interview mit 400 Mark bezahlen ließ. Das regt ihn auch nach fast sieben Jahren noch auf: Falsch dargestellt, Neuling in der Redaktion. „Ich habe da kein Unrechtsbewusstsein“, sagt er bestimmt. Es sei „eine außerdienstliche Leistung“ gewesen, ein Interview in Englisch über die Pflegeversicherung zu geben.

Mit der inhaltlichen Kritik an dem Männergremium, das entscheiden darf, was die Kasse zahlt, lebt Jung schon lange gut. Etwa mit den Einwänden von Ellis Huber, ehemals Berliner Ärztekammerpräsident und Geschäftsführer der Securvita Gesellschaft zur Entwicklung alternativer Versicherungskonzepte. „Obwohl ihm nach Meinung nahmhafter Verfassungsrechtler die demokratische Legitimation fehlt, maßt sich dieses Gremium von Ärzte- und Kassenfunktionären unter dem Vorsitz des Exstaatssekretärs Karl Jung diktatorische Machtbefugnisse an“, klagt Huber. Der Bundesausschuss sei ein „Lobbyistengremium“, ein „Geheimzirkel“. Naturwissenschaftliche Erkenntnisse wie „Emotionen verändern Körperzellen“ fänden keine Berücksichtigung. Huber verlangt: eine verantwortliche und ganzheitlich handelnde Medizin statt „zentralistischer Volksbeglückung“.

Jung sitzt stoisch am Tisch. „Das bleibt an der Außenseite der Jacke und geht nicht tiefer“, sagt er gelangweilt. Angriffe sei er gewohnt. „Die Kampagne gegen Blüm wegen der Rente, die Pflegeversicherung, die Gesundheitsreform.“

Oder das mit dem Geheimgremium. „Unsinnige Vorwürfe“. Früher, sagt er, habe der Ausschuss vielleicht „wie ein Geheimgremium“ agiert. Mittlerweile würden Beschlüsse begründet, Anhörungen ausgedehnt. Mehr Transparenz sei „schön und gut“, fährt er unwillig fort. „Vielleicht könnte man da mehr tun.“ Doch solche Forderungen sollten, bitte schön, an das Gesundheitsministerium gerichtet werden.

Jung nennt die Kritik am Ausschuss „die Klischees“: „Alte, verkalkte Männer, die nicht wissen, was sie tun, und finstre Gesellen von den Kassen, die kein Geld ausgeben wollen, und Ärzte, die neue Leistungen nur privat anbieten wollen.“

„Mein Großvater war besessen. Er hat bis zum 80. Lebensjahr Backöfen konstruiert“

Als wolle er seinen Kritikern auch noch Munition liefern, nennt er mehrere Male das Jahr 1967 als Beginn seines Ehrenamtes als Vorsitzender des Bundesausschusses. Auch in seinem Lebenslauf hat er mit Bleistift unter dem Punkt „gegenwärtige Funktionen“ 1967 notiert. Dreißig Jahre daneben.

Es gibt Wörter, auf die Jung allergisch reagiert. „Patientenbeteiligung“ ist so ein Wort. „Als entscheidungsbefugte Mitglieder?“, fragt er entsetzt. Schnickschnack. Wer solle denn im Ausschuss Patientenvertreter sein? „Wer mal eine Grippe hatte und sich Hustentropfen verschreiben ließ, ist doch nicht für Krebs oder Aids kompetent.“ Weil es keine repräsentative Patientenvertretung gebe, könnten Patienten auch nicht vertreten sein. Widerrede zwecklos.

Der ehemalige Staatssekretär aus der Kohl-Regierung, der keiner Partei angehört, bezeichnet sich selbst als „liberal mit bestimmten Grenzen“. Aber reaktionär sei er nicht, sagt er, ohne dass das Wort vorher gefallen wäre. Problematisch und „etwas artfremd“ findet Karl Jung „Dinge, die heute bei den Grünen modern sind“. Gemeint sind gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften. „Was zwei im Bett tun“, sagt er, „ist deren Problem.“ Aber den Schutz der Ehe auf „solche Erscheinungsformen“ auszudehnen, das geht dem zweifachen Vater – beide Söhne haben Rechtswissenschaft studiert – zu weit.

Dass im Bundesausschuss keine Frau sitzt, ist Jung egal. Es liege daran, dass es weder bei den Krankenkassen noch bei der Kassenärztlichen Bundesvereinigung Frauen gebe. „Ich hab damit keine Probleme.“ Immerhin gebe es im Bundesgesundheitsministerium Frauen in verantwortlicher Stellung. Den Namen der Gesundheitsministerin Ulla Schmidt nennt er nicht, doch ihre Vorgängerin Andrea Fischer von den Grünen lobt er. „Frau Fischer schätze ich persönlich höher ein als die jetzige Ministerin.“ Der Grund: „Ich sehe keine positive Entwicklung. Eine Lösung der Probleme ist nicht zu erwarten.“

„Alternativmedizin“ ist auch so ein Wort, das Jung nicht mag. Den Vorwurf, der Ausschuss sperre sich gegen solche Heilmethoden, nennt er „Quatsch“. „Wir müssen genau wie die Schulmedizin die alternativen Methoden auf ihre Anwendbarkeit hin bewerten.“ Dann spricht er doch von „Außenseitermethoden“ und dass die Beweislage schlechter sei als bei der Schulmedizin. Homöopathie hat für Jung mit „dran glauben“ zu tun. Das könne kein Kriterium sein.

Jung meint, dass viele der Leistungen der Kassen verzichtbar seien. Welche, sagt er nicht. „Ich bin kein Mediziner, da halte ich mich zurück.“ Stattdessen spricht er vom Bundesausschuss als einem „Gremium von Amateuren“. Amateure sollen darüber befinden, was gut für die Menschen ist? Jung denkt kurz nach und beantwortet die Frage mit einer Gegenfrage, die plötzlich nach Altersweisheit statt nach Altersstarrsinn klingt. „Woher weiß der Ausschuss, was gut für die Menschen ist?“ Doch die Hoffnung trügt. Jung meint gar nicht den Ausschuss. „Wer weiß schon, was gut für die Menschen ist.“