Der Speiseplan der Zukunft

Der aktuelle Stand der Dinge in kulinarischen Angelegenheiten wird uns auf der Grünen Woche präsentiert. Wie es in einigen Jahren auf unseren Tellern aussehen wird, ist noch nicht ausgemacht. Doch die Mahlzeiten der Zukunft existieren bereits

von HOLGER KLEMM

Was derzeit in den Topf und auf den Teller kommt, kann auf der Grünen Woche ausgiebig bestaunt und probiert werden. Aber was und wie werden wir in Zukunft essen? Schon heute werden Lebensmittel entwickelt, die unseren Speiseplan im 21. Jahrhundert prägen könnten.

Algen kommen in den Pudding und ins Brot

Seit vergangenem Jahr wird in Kiel an einer Ostseealgenfarm experimentiert: Coastal Research & Management (CRM) kultiviert Braunalgen. Schon heute enthalten Pudding, Jogurt, (Winter-?)Eis und Marmelade Algenauszüge (Stabilisator und Verdickungsmittel). Die Bäckermeister aus dem sachsen-anhaltischen Klötze (es gibt drei) setzen auf die Grünalge als Zutat für ihre Brote. Als die BSE-Angst umging, versorgte auch ein Schöneberger Bäcker seine Kundschaft mit grünen Schrippen. Mit dem Chlorophyllschleim lässt sich bei Vegetariern Eiweißmangel entgegenwirken.

Die Wurst wird zur Backware

Die Schweden stellen Buletten aus Zuckerrüben her. Sie hatten nach dem Zuckerauspressen immer noch Rübenmatsch übrig. Fix getrocknet und vermahlen – und untergemixt. Die Einsatzvarianten sind nahezu unbegrenzt: Rührt man sie in den Brotteig ein, bleibt das Brot länger frisch; es wird als blutzuckersenkend gelobt; „Fleischklößchen, Frikadellen oder Hackbraten werden saftiger und vermitteln ein besseres Kaugefühl“ (Danisco Sugar/Fibrex). Es gehen auch „kaltschwellende Mehle“ als Ausgangsstoff von „Backwaren, Wurst und Fertiggerichten“ (Skåne-möllan AB). Die Wurstbäcker erhoffen sich 20 Prozent ihres Umsatzes in Deutschland.

Wachstumsmarkt: vegetarisches Fleisch

Biogroßproduzenten verzichten gleich völlig auf Fleisch. So macht Viana-Naturkost seinen Kunden den Mund wässrig mit „Feines Züri Geschnetzeltem“ und „Chickin Mick Nuggets“ (aus Tofu, Weizen und Mandeln) – Sachen, von denen sich die schwedischen Produzenten nicht ohne Grund einen Wachstumsmarkt erträumen.

Dabei aßen die Deutschen im vergangenen Jahr – verglichen mit 2000 – schon rund 12 Prozent weniger Fleisch. Der Butterkonsum sank ebenfalls (um ein Viertel seit 1970). Trotzdem wuchsen im gleichen Maße die Pfunde auf den Hüften: Zwei Drittel aller Männer und die Hälfte aller Frauen tragen zu viel von ihren eigenen vom Fleischer nach Hause.

Vier Jahreszeiten? Antizyklisch essen!

Bei Temperaturen unter null isst man gern mal ein Eis, quasi zum Aufwärmen. Das Temperaturverhältnis von Außen- zu Eistemperatur kann in kalten Wintern dem von einsetzendem Tauwetter zum Grog ähneln. Erstmals wird in Deutschland mit großem Aufwand Wintereis beworben (Schöller: Mövenpick Birne Helene). Die Chancen stehen laut Umfragen gut: Für vier von fünf Deutschen ist auch im kalten Jahresteil „Eiszeit“. Dagegen können Winterbrot (Uniferm), Winterwein (Heuschrecke Naturkost) und Winterwurst (Göttinger) schon fast als Klassiker durchgehen.

Zu jedem Fest blubbert das passende Getränk

Das Weihnachtsbier – hier gerade wieder aus den Regalen verschwunden – hat seine Tradition im Land der Wikinger. Die kübelten zur Wintersonnenwende besonders harte Sachen. Und heutzutage klebt schon nahezu jede Brauerei Etiketten mit Weihnachtsmann. Der Gehalt der Stammwürze ist höher, der Gerstensaft „malzig im Abgang“. Dabei noch nicht genannt sind die neuen Biermischgetränke, die auf den Markt blubbern. Kirschbier zum Beispiel – aus Kirschsaft plus Bockbier sowie Holundersaft und Zuckersirup – fließt an allen Reinheitsgeboten vorbei in den Handel (Klosterbrauerei Neuzelle/Brandenburg).

Der Kloß mit Soß hat vom Ü-Ei gelernt

Ein Überraschungsei kommt aus Neumarkt in der Oberpfalz: Der weltweit erste „Kloß mit Soß‘“ (Burgis). Hier schwimmt nicht mehr der Kloß in der Brühe, sondern die Schweinebratensoße schwabbert im Kartoffelteigmantel vor sich hin. Das ginge im Sommer als Fastfood-Variante aber noch hipper: „Kloß mit Soß to go“ mit Strohhalm.

Spanien + Spreewald = Gurkencocktail

Aber nicht nur die Darreichungsformen, auch die Kombinationen von Lebensmitteln wechseln stetig. Besonders offensichtlich, seit ein Spanier in Brandenburg den Gurkencocktail „Pepino“ kreierte. 2 cl Gurkenbrühe – geshakt mit Nordhäuser, Curaçao Green und Dill auf Eis mit Bitter Lemon – im preisgekrönten Mix (Spreewaldkonserve).

Funktional heißt noch lange nicht Genuss

Ebenfalls bedeutungsvoll zu nennen ist Functional Food, Essen also, dem wegen seiner Beimengungen neben seinem Nährwert auch gesundheitsfördernde Eigenschaften zugeschrieben werden. Die Herkunft der Zusatzstoffe ist unkulinarisch. So stammen die Laktobakterien der probiotischen Jogurts aus dem Darm, Omega-3-Fettsäuren (Omega-Brote) aus Fischöl und die cholesterinsenkenden Phytosterole mancher Margarine aus der Baumrinde. Aber man soll sich von derlei Informationen nicht den Magen umdrehen lassen.

Fleischfrucht ohne braune Flecken

Hauptsache, das Essen sieht gut aus!, wissen Forscher der University of Florida. Sie wollen verhindern, dass Obst und Gemüse braune Flecken bekommen. Die sind nicht schädlich, aber ein Grund dafür, dass jährlich tausende Tonnen Früchte auf der Müllkippe landen. Ein Protein der Stubenfliege verhindert das Braunwerden. Gewaschen, schockgefrostet und pulverisiert, können die Plagebrummer also noch einen guten Zweck erfüllen und Druckstellen im Apfel kaschieren. Kakerlakengenen werden ähnlich gute Eigenschaften zugesprochen, weswegen bald mit einem Spray aus den lichtscheuen Leisetretern (Amerikanische Großschabe, Periplaneta americana) zu rechnen ist.

Gütesiegel gegen Automatenmahlzeit

Die Italiener sind bisher die Einzigen, die sich um den guten Ruf ihrer Küche Sorgen machen. Zu Recht, denn eine oberitalienische Firma entwickelte jüngst den Pizzaautomaten, eine Mischung aus Ofen und Kühlschrank, der nach Drücken diverser Knöpfe binnen 90 Sekunden eine angeblich original italienische Pizza ausspuckt (Wonder-Pizza). Italienische Ministerien, Gaststättenverband (Ardi) und Unternehmervereinigungen verleihen daher das Gütesiegel „Made in Italy“, beginnend im eigenen Lande, ab dem dritten Quartal auch in hiesigen Pastaküchen. Aber womöglich erstreitet sich Wonder-Pizza ebenfalls den Reinheitsstempel.

Die Grüne Woche wird es uns offenbaren

Welche dieser Neuentwicklungen in Zukunft ein Teil unserer Esskultur werden, ist ungewiss – noch. Spätestens ein Besuch auf der Grünen Woche wird uns früher oder später darüber aufklären, was bald auf den Tisch kommt.