Shell to hell

Am 30. April 1995 besetzt Greenpeace eine ausgediente Ölplattform, die der Energiekonzern Shell versenken will – die Brent Spar. Es folgen einer der größten Erfolge in der Geschichte der Umweltbewegung, ein Massenboykott von Shell-Tankstellen und ein Frühsommer, in dem ein ganzes Land gute Laune hat

Greenpeace: Ist die weltweit bekannteste Umweltorganisation. Sie geht zurück auf gemeinsame Aktionen von Atomkraftgegnern und Friedensaktivisten, die im Jahr 1971 gegen US-amerikanische Atomwaffentests protestieren. Greenpeace in Deutschland: Seit 1980. Die erste Aktion richtet sich gegen die Dünnsäureverklappung in der Nordsee – die später tatsächlich komplett verboten wird. Mit rund 560.000 Förderern, die 2006 knapp 40 Millionen Euro spendeten, ist Greenpeace in Deutschland der Umweltverband mit den meisten UnterstützerInnen – gefolgt vom Naturschutzbund mit 450.000, dem BUND mit 405.000 und dem WWF mit 324.000 Mitgliedern bzw. Förderern. Im Gegensatz zu vielen anderen Verbänden lehnt Greenpeace finanzielle Unterstützung durch Unternehmen oder staatliche Stellen strikt ab. Kritik an Greenpeace: Entzündet sich gelegentlich an der hierarchischen Struktur und dem fehlenden Stimmrecht der Förderer. Für heftige Debatten sorgt 2007 eine Kooperation von Greenpeace, WWF und BUND mit Axel Springers Bild. Unter dem schönen Motto „Rettet unsere Erde“ wird für Klimaschutz geworben – ausgerechnet in dem Blatt, das verlässlich gegen Ökosteuer und Umweltauflagen wettert.

Die wirklich großen Umwälzungen der Weltgeschichte sollen sich immer im Herbst ereignet haben. Man denke nur an den November 1989 oder den Oktober 1918. Dabei wird gerne unterschlagen, dass die ersten warmen Tage des Jahres, wenn die Hormone ausschlagen, ein mindestens ebenso großes umstürzlerisches Potenzial entwickeln können. Den Frühsommer 1995 werden wir jedenfalls nie vergessen. Es war eine großartige Zeit. Halb Deutschland fuhr mit ausgestrecktem Stinkefinger an den Shell-Tankstellen vorbei, wo die Pächter wochenlang vergeblich auf Godot und andere Kunden warteten und sich reihenweise ins Messer stürzten. Brent Spar!

Die geplante Seebestattung der 137 Meter hohen Öllagerplattform mit reichlich Gift an Bord provozierte im Mai und Juni 1995 die erfolgreichste Boykott-Aktion in der nicht eben ruhmreichen Verbrauchergeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Damals passte alles: das Wetter, die Stimmungslage der Nation, die tumben und tauben Öl-Manager von Shell, die tapferen Regenbogen-Krieger von Greenpeace, eine aggressive Berichterstattung in den Medien. Und dazu eine politische Klasse, die sich in dichten Pulks auf dem Umwelt-Bahnhof Bonn drängelte, um noch rechtzeitig auf den Fahrt aufnehmenden Boykott-Zug aufzuspringen.

Dabei hatte alles wie immer angefangen. Greenpeace hatte am 30. April des Jahres eine ausgediente Ölplattform besetzt, die von Shell versenkt werden sollte. Diese Besetzung zog sich allerdings über Wochen hin, weil es dem Ölkonzern und der Polizei bei stürmischem Wind und meterhohen Wellen einfach nicht gelingen wollte, die Greenpeacer von der Plattform zu räumen.

Das übliche David-gegen-Goliath-Spielchen dauerte deshalb ungewöhnlich lange und sickerte täglich in die Wohnstuben. So konnte sich der Volkszorn ganz allmählich und wie in Zeitlupe aufbauen. Und irgendwann hatte auch Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) begriffen, dass es womöglich nicht ganz in Ordnung ist, eine alte, 14.500 Tonnen schwere Ölplattform samt Giftinventar in Ex-und-hopp-Manier einfach im Atlantik absaufen zu lassen. Die Aussicht, dass weitere 100 oder 200 Öl-Plattformen in den nächsten Jahren ebenfalls auf ihre Entsorgung warteten und der Meeresboden so endgültig zur Mülldeponie werden könnte, verschärfte die Lage zusätzlich.

Aus heutiger Sicht lässt sich kaum noch feststellen, wer denn der Boykottaktion gegen Shell den entscheidenden Kick gegeben hat. Genauso wenig war vorhersehbar, dass die Volksseele ausgerechnet bei diesem Thema überkochen würde. Fünf Jahre später erlebten wir bei der Stampede um den Rinderwahnsinn BSE eine ähnlich heftige Reaktion der Verbraucher. Der Shell-Boykott hatte allerdings deutlich mehr Charme, weil er zielgerichteter war und weil er nicht wie bei BSE aus der Angst heraus geboren wurde, sondern aus purer Lust, den Shell-Bossen zu zeigen, wo der Hammer hängt.

Die Boykott-Aufrufe kamen aus allen Himmelsrichtungen und waren meist indirekt formuliert: „Wenn schon tanken, dann nicht bei Shell“, wand sich der Grünen-Bundesvorstand. Der hessische CDU-Mann Roland Koch fand es dagegen „selbstverständlich, dass Autofahrer in diesen Tagen nicht bei Shell tanken“. Und die GAL im Kreisverband Wandsbek dichtete: „Wer verseuchte Öl-Plattformen losmacht oder losgemachte Öl-Plattformen mit Giftmüll im Atlantik versenken will, darf nicht unter einem Tankboykott bestraft werden!“ Politik, so scheint es, hat damals noch mehr Spaß gemacht.

Selbstverständlich war es eine Boykottaktion, die nichts kostete. Nichts ist einfacher, als an einer Shell-Tankstelle vorbeizufahren und stattdessen bei Aral, Esso und BP zu halten. Einige Umwelt-Oberlehrer entrüsteten sich deshalb mit der üblichen Linkshaberei in Leserbriefen an die taz, dass der Boykott doch nur das Ökogewissen entlaste, ein „schwunghafter Ablasshandel“ sei, von Dioxin, Atom und anderen multiplen Nekrosen ablenke und dass Autofahrer, die sonst nie etwas für die Umwelt getan hätten, jetzt plötzlich ihr Ökoherz entdecken würden usw. usf. Vor lauter verbiesterter Korrektheit verpassten manche das Beste: nämlich die innere Teilhabe an einem politischen Boykott, der jede Menge gute Laune machte und dem ganzen Land nebenbei auch noch demonstrierte, welche Macht der Verbraucher eigentlich hat.

Da störte es dann auch nicht weiter, dass selbst CDU-Rechtsaußen Heinrich Lummer zu Protest und Boykott aufrief oder FDP-Mann Günter Rexrodt vor den Shell-Zapfsäulen warnte. Der Höhepunkt war erreicht, als auch der Oggersheimer Kanzler und der damalige CSU-Finanzminister Waigel kein Shell-Benzin mehr tanken wollten und sich öffentlich dazu bekannten. Ohne sie alle hätte diese Boykottwelle sicher nicht die Wucht bekommen, die sie dann tatsächlich entfaltete. Erst die große gesellschaftliche Tangentiale zwang einen Weltkonzern in die Knie und ließ den Öko-Underdog inklusive Millionen Autofahrer triumphieren. Dass in Hamburger und Frankfurter Vororten Shell-Tankstellen von militanten Gruppen besucht wurden („Wir haben heute Nacht die Volksdorfer Tankstelle des Shell-Konzerns angegriffen“) bewies: Vom Kanzler bis zu den Molotow-Brigaden fehlte wirklich niemand im großen Boykott-Tango des historischen Frühsommers 1995.

Wie immer, wenn es brennt, lief die taz zu anständiger Form auf. Auf den Redaktionskonferenzen war die Stimmung spritziger als gewohnt. Das wirkte sich direkt auf die Überschriften aus: „Shell will Senkpause einlegen“, „Plattform-Plattmacher sind ziemlich geplättet“ oder ganz einfach: „Shell to hell“. Kulturredakteur Mathias Bröckers zog kräftig an seinem Joint und mobilisierte die Massen schon mal für künftige weltumspannende Boykottaktionen. Brav erklärte er, dass Charles Boycott 1880 die irischen Landbauern dazu getrieben hatte, nicht mehr für einen besonders ausbeuterischen Gutsverwalter zu arbeiten, und dass er mit diesem Aufruf im weltweiten Wirtschaftsleben eine neue Aktionsform erfunden habe: den organisierten gemeinsamen „Bannstrahl der Kunden“, auch Boykott genannt.

Der Shell-Boykott ging dann Ende Juni zu Ende, als der Konzern vor der Macht der Stinkefinger kapitulierte. Am 20. Juni 1995 hatte Shell erklärt, auf die Versenkung der Brent Spar zu verzichten und den Koloss vorschriftsmäßig an Land zu entsorgen. Zuvor hatten die Tankstellen des Multis auch in den Niederlanden, in Skandinavien, Belgien, Österreich und in Spanien Millionenverluste gemeldet. Shell war besiegt, die Meuterei gegen die Seebestattung ein voller Erfolg. Nur die englische Regierung unter John Major, die zuvor die Versenkung genehmigt hatte, kritisierte den Rückzieher und maulte, Shell habe offenbar die Nerven verloren. Die norwegische Regierung versuchte dagegen zu vermitteln. Man riet dem Ölkonzern, die Brent Spar erst einmal in einem „ruhigen norwegischen Fjord“ zwischenzulagern. Und tatsächlich wurde die Ölplattform nach Norwegen geschleppt und dort später auch abgewrackt.

Die Vorschläge des Autors, die Plattform zu einem Abenteuerspielplatz („ich Greenpeace, du Shell“) oder einem Erotik-Center („I did it on Brent Spar“) umzurüsten, blieben allesamt unerhört. Ein 130 Meter langes Teilstück der Außenhülle der Plattform entkam allerdings der Schrottpresse. Es kann noch heute im norwegischen Mekjarvik besichtigt werden, wo es als Kai-Fundament eine neue Verwendung gefunden hat. Der Rest der Brent Spar wurde ordnungsgemäß entsorgt. Der Shell-Konzern beließ es aber nicht dabei, sondern startete eine aufwändige Image-Kampagne. „Wir werden uns ändern!“, versprach der Öl-Multi voller Demut in großformatigen Zeitungsannoncen.

Greenpeace hatte auf der ganzen Linie gewonnen, konnte seinen Triumph allerdings nicht so richtig genießen. Die Umweltkämpfer mussten nämlich einräumen, dass sie die Menge der Giftfrachten an Bord der Brent Spar deutlich überschätzt hatten. Es waren tatsächlich „nur“ 75 bis 100 Tonnen und nicht wie anfangs vermutet 5.000 Tonnen. Einige Zeitungen sprachen von einem schweren Glaubwürdigkeitsverlust der Umweltorganisation. Als wäre es auf die Menge des verseuchten Inventars angekommen. Auch ohne Gift wäre die Beerdigung der Brent Spar im Atlantik ein Skandal gewesen. 1998 wurde denn auch ein Versenkungsverbot für alle Ölplattformen erlassen. Der Druck der Öffentlichkeit hatte die Politik zum Handeln getrieben.

Die taz mobilisierte inzwischen schon wieder für neue Boykottaktionen gegen Getränkedosen-Hersteller oder Energiemonopolisten. Vergeblich. Auch alle Versuche, französische Produkte wegen der Atomtests der Grande Nation gezielt zu meiden, mussten scheitern. Aus welchem Ventil der Volkszorn zischt, lässt sich eben nie vorhersagen und meist auch nicht so leicht beeinflussen.

Der Boykott gegen die Brent Spar kam ebenso unverhofft wie von Herzen. Es war ein warmer, unvergessener Frühsommer im Jahre 1995.

MANFRED KRIENER war von März 1980 bis Dezember 1990 taz-Redakteur für Ökologie, daneben auch Nachrichten- und Seite-1-Redakteur sowie Gründer der „Leibesübungen“. Er ist heute Chefredakteur des neuen Umweltmagazins zeozwei.