Lebenslang „Lebensborn“

Wer im Schwaneweder Heim „Friesland“ zur Welt kam, wird noch immer mit Gerüchten über Menschenzüchtung konfrontiert. Der Bremer Heinz Peters hat den „Lebensspuren e.V.“ mitgegründet

Oft wird die Vergangenheit erst in Folge des Todes der Eltern bekannt. Doch dann ist auch niemand mehr da, den man fragen kann

Von Jana Wagner

Hartmut Müller ist auf der Suche nach seinen Geschwistern, dabei weiß er nicht mal sicher, ob es sie gibt. Laut dem Standesamt in Schwanewede existierten sie gar nicht, erzählt er. Beim Kreisarchiv in Osterholz-Scharmbeck wurde ihm gesagt, da sei „etwas“, sie dürften aber keine Auskunft geben. Müller, dessen Name in diesem Text wie auch die der anderen Betroffenen geändert ist, hat seine frühe Kindheit im „Lebensborn“-Heim „Friesland“ verbracht, nördlich von Bremen im heute zu Schwanewede gehörenden Löhnhorst gelegen.

Auch seine beiden Geschwister, von denen er gerüchteweise gehört hat, sind angeblich in einem der neun deutschen „Lebensborn“-Entbindungsheime geboren, allerdings von der Mutter weggegeben worden.

„Meine Mutter war nicht verheiratet“, erzählt Müller, „aber mein Vater“. Seine Mutter sei als „Hausdame“ angestellt gewesen. Zusammen bekamen die beiden Hartmut Müller, der somit zu einem typischen Fall für den „Lebensborn“ wurde.

Ziel des der „SS“ unterstellten „Lebensborn“-Vereins war es, kein „gutes Blut“ zu verlieren – so zitiert Georg Lilienthal, Autor des Buches „Der Lebensborn e.V.“, Gregor Ebner, den ärztlichen Leiter der „Lebensborn“-Heime. SS-Reichsführer Heinrich Himmler habe durch die Verhinderung von Abtreibungen auf Soldaten-Nachschub gehofft. Die Folge: Werdende ledige Mütter, die nach „rassischen Gesichtspunkten“ überprüft waren, bekamen die Möglichkeit, unter strenger Geheimhaltung in einem „Lebensborn“-Heim zu gebären.

Selbst den staatlichen Behörden verheimlichte der „Lebensborn“ viele Daten über die Kinder. Dies und das Schweigen der Mutter sind die Gründe, weswegen Hartmut Müller noch heute nichts über seine Geschwister weiß. „Meine Mutter hat überhaupt nicht mit mir darüber gesprochen. Sie hat nur gesagt: Das war eine sehr schöne Zeit“, erzählt Müller. Damit ähnelte sie offenbar anderen betroffenen Müttern: Nur wenige haben mit ihren Kindern über dieses Thema geredet.

Die allgemeine Geheimhaltungspolitik setzte schon zur Zeit des Nationalsozialismus eine heftig brodelnde Gerüchteküche in Gang – sie belastet die „Lebensborn“-Kinder bis heute. Erst 1985 erschien mit „Der Lebensborn e.V.“ das erste wissenschaftliche Werk zum Thema, davor gab es lediglich Publikationen, die die Gerüchte von fanatischen BDM-Mädchen, die sich von SS-Männern begatten ließen, aufgriffen und verschärft.

„Bei allen Problemen, die „Lebensborn“-Kinder schon haben, weil sie wenig über ihre Herkunft wissen und weil sie häufig Täterkinder sind, müssen sie sich auch noch anhören, dass sie in einer Zuchtanstalt geboren wären“, sagt Heinz Peters. Der Bremer ist Gründungsmitglied des Lebensspuren e.V., eines bundesweit agierenden Vereins von „Lebensborn“-Kindern und deren Angehörigen.

Bis heute ist die Quellenlage dünn. Autor Lilienthal ist trotzdem sicher, dass der „Lebensborn“ nicht an Aktionen zur künstlichen Befruchtung und Zeugungshilfe beteiligt war – Himmler habe solche Pläne erst für die Nachkriegszeit gehabt. Dann allerdings sollte jede kinderlose 30-Jährige aus „Ehrenpflicht gegenüber dem Reiche“ unter drei SS-Leuten den Vater ihres künftigen Kindes aussuchen, phantasierte der SS-Führer.

Wie das Bild der Arierzuchtanstalt in den Köpfen der Menschen weiterlebt, erzählt Ilse Schneider, Heinz Peters’ Freundin. Von ihrer Geburt in einem „Lebensborn“-Heim erfuhr sie erst vor wenigen Jahren: „Ich hatte mit meiner Schwester nie darüber geredet und vor einem Jahr sagte sie plötzlich zu mir: ,Du weißt schon, dass du in einer Zuchtanstalt geboren bist?‘ Das hat mir den Boden unter den Füßen weggezogen.“

Die Auseinandersetzung mit der eigenen „Lebensborn“-Geschichte erfolgt häufig erst sehr spät, sagt Peters: „Viele erfahren erst in einem Alter um die 60 davon, dass sie in einem solchen Heim geboren sind.“ Oft werde die Vergangenheit erst infolge des Todes der Eltern bekannt.

Doch wenn die Eltern gestorben sind, ist auch niemand mehr da, den man fragen kann und so beginnt für viele „Lebensborn“-Kinder die Recherche in allen möglichen Archiven. Anna Friedrichs ist zwar im Heim Friesland geboren, aber in der DDR aufgewachsen. „In meiner Stasi-Akte stand: ,Sie ist in einem Heim geboren, wo man den Germanenstamm züchtete‘“, erzählt sie.

Der Geheimhaltung wegen sei ein weit vom Wohnort entferntes Heim zur Entbindung ausgewählt worden. Friedrichs’ Vater war bei der SS, auch sie selbst wurde vermutlich symbolisch in deren „Sippengemeinschaft“ aufgenommen. Dies geschah in den „Lebensborn“-Heimen auf Wunsch der Mutter bei einer Namensgebungsfeier – dem nationalsozialistischen Versuch, die Taufe zu ersetzen. Das Kind wurde mit einem Dolch berührt und bekam einen SS-Mann als Paten. „Ich habe noch ein Photo davon, wie der Raum für die Namensweihe geschmückt war“, berichtet Friedrichs. Während der Zeremonie wurde gesagt: „Eure Kinder sind der Adel der Zukunft“.

Materiell ist es den Kindern laut Peters für Kriegsverhältnisse tatsächlich gut gegangen. Der Umgang mit den Kindern sei jedoch häufig von emotionaler Kälte geprägt gewesen. „Ich war anderthalb Jahre alt, als ich aus dem Heim kam und konnte weder sprechen noch gehen“, bestätigt Friedrichs.

Das war 1940. Ein Jahr später wurde das „Lebensborn“-Heim Friesland wegen Bombenangriffen evakuiert. In einer Nacht- und Nebelaktion hat in diesen Tagen auch Hartmut Müller das Heim verlassen. Erst 1944 wurde „Friesland“ wieder als Entbindungsheim eröffnet, wie die Bremer Journalistin Dorothee Schmitz-Köster für ihr Buch „Deutsche Mutter, bist du bereit“ recherchiert hat.

Mit den weniger werdenden Zeitzeugen wird es immer schwieriger, Neues über den „Lebensborn“ zu erfahren. Doch Hartmut Müller gibt nicht auf. Er hofft, Informationen in den Versicherungsunterlagen der „Alten Leipziger“ zu finden: „Die Leute sagen zu mir: Lass doch den Scheiß ruhen. Aber ich möchte es wissen und es ärgert mich, dass mir keiner Auskunft gibt“.

Eine Ausstellung zum Heim Friesland gibt es in der Baracke Wilhelmine, An der Kaserne 122 in Schwanewede. Anfragen für Besichtigungen sind unter ☎ 0162 - 97 31 338 möglich