Unter Genieverdacht

... und dann zum getriebenen, zerknitterten Zyniker mutiert: Anton Tschechows Dramenerstling „Platonow“, inszeniert von Sebastian Hartmann am Schauspielhaus, bleibt schal

von ANNETTE STIEKELE

Am Ende des Martyriums reicht Platonow-Darsteller Wolfram Koch den Revolver an das Publikum des Schauspielhauses weiter. Möge es ihn endlich erschießen, damit die Qual des Abends ein Ende habe. Da ist er bereits unzählige Male erschossen worden, von der verbitterten Sofia und von den übrigen Mitgliedern der Verfallsgesellschaft.

Es wurde Zeit. Wollte man Tschechows Dramenerstling Platonow vom Blatt spielen, würde er acht Stunden dauern. Dieser brauchte nur vier Stunden. Doch in Sebastian Hartmanns Regie schien im letzten Drittel selbst diese Fassung von Alexander Nitzberg, gestrafft von Michael Eberth, endlos. Dabei bemühte sich der für Provokationen berüchtigte Regisseur über weite Strecken um gediegenes Schauspielertheater. Mit ernsten Gesichtern treten die Darsteller vor den Vorhang, gruppieren sich zu einem Gemälde, das Zerrüttung schon erahnen lässt. Dahinter hat Peter Schubert einen schmalen Salon mit integrierter Bühne errichtet.

Auf dem Gut der verschuldeten Generalswitwe sammelt sich eine Gesellschaft von Überflüssigen, Überdrüssigen. Hier lungern die Protagonisten auf altem Gestühl herum, ergehen sich in intellektuellen Scherzen und anzüglichen Witzen. Christiane von Poelnitz lebt als Witwe Anna Petrowna ihre Vergnügungssucht auf hohem Niveau. Nicht nur sie ist entzückt, als Platonow auf das Gut findet. Früher galt er als Querdenker unter Genieverdacht, nun scheint er zum braven Dorflehrer und Ehemann der dümmlichen Sascha (Maja Schöne) mutiert.

Doch bei ihm haben Selbsthass und übermäßiger Alkoholgenuss noch fatalere Folgen, als bei allen übrigen. Er braucht nur wenige Minuten, um seine Frau vor aller Augen zu kompromittieren, indem er Anna Petrowna minutenlang küsst. Oder indem er die junge Maja (Mira Bartuschek) betört. Oder bei der frisch mit seinem Freund Sergej verheirateten Sofia (Cordelia Wege) Erinnerungen an stürmische Liebe entfacht.

Hinter dem großartigen Wolfram Koch bleibt das übrige männliche Personal fast zur Statisterie verdammt. Mit zotteligem Haar und alkoholverhangenem Blick stolpert er durch die Szenerie und versprüht seinen anziehenden Lottercharme. Dieser Zyniker im Knitteranzug ist ein Getriebener, der vergebens „einen Menschen“ sucht und sich willig als Projektionsfläche für die Gelüste und Sehnsüchte der ihn umgebenden Frauen hergibt. „Eine fremde Seele ist wie ein dunkler Wald“, sagt Platonow.

Kurze Zeit später hebt sich der innere Vorhang und gibt den Wald frei, der zum sich drehenden Irrgarten verlorener Träume wird. Und die Inszenierung ihrem quälenden Versanden entgegenführt. In einigen der tragikomischen Begegnungen gelingt da noch die Andeutung von Tiefe. Etwa, wenn die Generalin Platonow in seiner Bretterbude besucht und ihn dort mit reichlich Wodka zu einer fragwürdigen Liebe überredet. Ebenso, wenn Sofia sich ihm an den Hals wirft, und bereit ist, ihren Gatten Sergej (Samuel Weiss) für „ein neues Leben“ zu opfern.

Doch mehr und mehr bedient sich Hartmann alberner Kitscheffekte. Thomas Lawinky muss als Pferdedieb Ossip ausgestopfte Tiere auf die Bühne werfen, bevor er sich der traurigen Sascha nähern darf. Platonow und Sofia finden zueinander unter unvermeidlich rieselndem Schnee mit Fellmütze, Hund, Kinderwagen und französischem Chanson. Bleibt der Eindruck, dass der Regisseur es hier für seine Bühnensprache mit der Oberflächlichkeit und Ratlosigkeit seiner Figur allzu wörtlich genommen hat.

weitere Vorstellungen 21.+22.1., 20 Uhr, Schauspielhaus