Kann Scheiße Kunst sein?

Mehrbödig: „Vergessenheit“ – die letzten drei Geschichten von David Foster Wallace

Der furiose Postpostmodernist David Foster Wallace hat sich – es ging durch die Feuilletons – am 12. September 46-jährig erhängt. Sein schockierter Generationskollege Jonathan Franzen gibt zu Recht zu Protokoll, er sei der beste gewesen.

In Deutschland war er gerade erst vom Geheimtipp-Kultautor zu größerer Bekanntheit gelangt – obwohl sein deutscher Verlag eher für Missverständnisse sorgt, wenn er zum Beispiel Erzählbände auseinanderreißt: Von den acht Erzählungen aus „Oblivion“ (2004) sind unter dem Titel „In alter Vertrautheit“ fünf vor zwei Jahren erschienen, der diesjährige Rest nun heißt „Vergessenheit“.

Die Titelgeschichte ist ein mehrbödiges Geständnis zwischen Traum und verzerrter Realität. Ein Mann erzählt zunächst scheinbar handfest vom Schnarchkrieg zwischen ihm und seiner Frau: Sie behauptet, er wecke sie durch Schnarchen, er behauptet, zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht geschlafen zu haben. Ein Schlaflabor soll schließlich Klärung bringen. Die Ergebnisse sind verblüffend, und das Ende, ein Dialog nach dem Erwachen aus einem Albtraum (aber wessen? und wann?), stellt die Frage, was überhaupt Realität war und was Traum, noch einmal völlig neu.

Solche Leerstellen und Schwenks, die den Blick auf eine vierte oder fünfte Dimension der Texte öffnen, sind typisch für D. F. Wallace. Dabei ist das virtuose Drehen an den Erzählscharnieren nie rein spielerisch – Wallace weiß genau, dass postmoderne Spielchen mittlerweile selbst im Mainstreamkino angekommen sind.

Seine Brillanz zielt immer auf die Wunden, auf existenzielle Unlösbarkeiten. Wie geht man mit jemandem um, der aus Versehen einen permanenten Gesichtsausdruck blanken Entsetzens trägt? Wie erträgt man die eigene Bedeutungslosigkeit in großen Unternehmen? Wie sieht es in jemandem aus, dessen Erfolge erklärtermaßen auf reiner Gefallsucht beruhen?

Auch: Kann Scheiße Kunst sein? In „TV der Leiden“ stellt sich die Frage wörtlich: Ein Mann scheißt Kunstwerke; ein Klatschreporter will das delikate Thema bei seiner Zeitschrift unterbringen. Daran hängt mindestens die Frage nach der Bewusstheit, außerdem die nach der Intimität von Kunst. Ein anderer Strang treibt Reality-Tendenzen des Fernsehens über noch bestehende Grenzen: Im Herbst 2001 soll ein neuer Sender mit unkommentierten „Real-Life-Bildern von den intensivsten Momenten menschlichen Leids“ starten. Elegant wird der 11. September angedeutet und doch ausgespart: Noch ist Juli.

Bei aller gedanklichen Schärfe sind die Figuren von maximaler Anschaulichkeit: die Provinzialität des Künstlers und seiner anmutig fetten Frau genau wie die Gegenwelt der magersüchtigen Redaktionspraktikantinnen im WTC. Stets ersteht das gewählte Milieu so genau, als hätte der Autor dort ein Jahr lang undercover recherchiert.

Man muss natürlich beide Teilbände lesen. „Oblivion“ ist Wallace’ letztes Buch. Das Ende einer Geschichte führt in einer raffinierte Volte von einem Ich, das gegen einen Brückenpfeiler gefahren ist und die Geheimnisse des Sterbens lüftet, zu David Wallace, der ungläubig vor dem Selbstmord dieses Highschool-Sonnyboys steht – er hatte ihn „in bester menschlicher Tradition für glücklich gehalten“ und malt sich nun seine Beweggründe aus.

Man hätte sich auch David F. Wallace’ Existenz gern als glücklich gedacht. Schließlich beherrschte hier einer in seinen Texten jedes denkbare Register, hatte den entsprechenden Erfolg sowie ein Haus und eine Ehe in Kalifornien. Aber da hat man sich wohl getäuscht.

Den deutschen Lesern bleibt noch das Opus Magnum zu entdecken, „Infinite Jest“ (1996), dessen Übersetzung der Verlag seit Jahren für die jeweils nächste Saison ankündigt. Nun wird man es irgendwann posthum auf Deutsch lesen müssen. Aber auch dürfen. MAJA RETTIG

David Foster Wallace: „Vergessenheit“. Storys. Aus dem Amerikanischen von Ulrich Blumenbach und Marcus Ingendaay. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2008, 222 Seiten, 18,95 Euro; „In alter Vertrautheit“. Storys. Aus dem Amerikanischen von Ulrich Blumenbach und Marcus Ingendaay. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2006, 255 Seiten, 18,90 Euro