Wo geht es nach Amerika?

Das Epos wohnt hier nicht mehr: In ihrem Kurzgeschichtenband „Video“ erzählt die indische Autorin Meera Nair von einem gar nicht so sonderlich spektakulären Alltag auf der anderen Seite des Ozeans

von KARSTEN KREDEL

Asiatische Amerikaner fungieren meist als Garanten für Erfolg und als Zeugen für die Großartigkeit der Neuen Welt: vor Jahrzehnten als mustergültig assimilierte model minority, später als kulturell selbstbewusste new immigrants, die dennoch immer Amerikas heiligsten Mythen zu huldigen schienen: Arbeite hart und du kannst es schaffen.

Für die Brüche und Verwerfungen dagegen, für die Geschichte der Emigration als Chance und Tragödie und für weibliche Perspektiven fand sich bald die asiatisch-amerikanische Literatur zuständig, die damit prompt ihre eigene Erfolgsgeschichte schrieb. Je imponierender ein Monument, desto länger und dramatischer sein Schatten, der den aufgewühlten Erzähler seine Staffelei ergreifen und nach draußen eilen lässt. Oder wie es die indischstämmige Autorin Bharati Mukherjee mit Blick auf die Siebzigerjahre sagte: „Während der amerikanische Roman in einer Dekade des Minimalismus steckte, wurde ein Epos an seine Ufer gespült.“

Mukherjee, Maxine Hong Kingston und andere bereiteten das Feld, doch eingelöst wurde die Erwartung erst 1989 von Amy Tan, deren Familiensaga „Töchter des Himmels“ erst eine Hollywoodverfilmung und dann einen Markttrend prima unakademischer Schmöker über neue Identitäten und alte Heimaten nach sich zog. Den Erfolg unterstützt haben dürften, wie eine Kritikerin kürzlich feststellte, Buchtitel wie „Die Frau des Feuergottes“ (Tan) oder „Die Hüterin der Gewürze“ (Chitra Banerjee Divakaruni), die das Ganze, bei aller Bejahung der Moderne, mit ein paar Prisen Spiritualität und Tradition vertraut-orientalisch würzten.

Meera Nairs erstes Buch, eine Sammlung von Kurzgeschichten, hätte mit alldem gerade mal so viel zu tun, dass es ohne den Boom wahrscheinlich nie übersetzt worden wäre, würde es sich nicht so sehr bemühen, gegen den Strom zu schwimmen. Es heißt „Video“ und stellt damit sofort klar, dass weder ergreifende Mutter-Tochter-Konflikte und Ehebrüche noch opulente kulinarische Ereignisse zu erwarten sind. Stattdessen wird mal von einem Jungen aus den Seitenstraßen von Delhi und seiner Faszination für einen fahrenden Verkäufer von Glasmurmeln erzählt, mal von einem anderen, dessen Sandskulpturen am Strand des Ozeans alle verzauberten.

Doch dann ist der Mann samt Murmeln weg, die letzte Skulptur wird vom Meer umarmt, und nur die Kinder ahnen etwas von den Kräften, die einen Menschen verwandeln können. Alle anderen sind schwer von der Trägheit des Gewohnten; und das Ansinnen, ihren Platz im sozialen Gefüge zu überdenken, würden sie brummelnd von sich weisen, so wie der Lokaljournalist, der sich über die modische Unsitte des Valentinstages ereifert. Oder der Ladenbesitzer, der das verstörende Video, das ihn auf die unerhörten Gedanken bringt, die seine Frau so empören, am liebsten gar nicht gesehen hätte.

Sie überqueren den Ozean nicht, sie verharren an seinen Ufern und sind doch keine entrückten, zufälligen Figuren. Was weit entfernt Stoff für Epen abwirft, davon haben sie gehört; sie reagieren darauf mit Unruhe, vager Sehnsucht oder milder Panik. Sie nehmen die Echos wahr – Echos der Geschichte im Alltag, Echos aus der Welt der Erwachsenen in der Welt der Kinder.

Oder eben die Echos aus Amerika, dem Ort der Erneuerung, in einem indischen Dorf, das durch den angekündigten Besuch des mächtigen Präsidenten „aus jahrhundertelanger völliger Bedeutungslosigkeit erlöst werden soll“. Ein Bewohner, dessen Onkel vor Jahren nach Amerika auswanderte, ist informiert, dass sie dort „alle perfekte Zähne“ haben, und alle warten gespannt auf den Tag, der alles verändern wird. Wenn das am Ende doch nicht passiert, so wurde doch zumindest die Toilette des Schulgebäudes erneuert.

Die Perspektiven wechseln – hier ist es das ganze Dorf, andere Male ein älterer Mann oder ein kleiner Junge, und nur einmal eine erwachsene Frau, deren Wahrnehmung ins Zentrum rückt. Wenn die Erzählungen für etwas repräsentativ sind, dann ist es die amerikanische Schule des kreativen Schreibens. Nair kam 1995 zum Studium in die USA. Von dort aus horcht auch sie den sich entfernenden Echos der eigenen Vergangenheit nach und bringt sie in Formen, die das anvertraute Geheimnis bewahren. Das Buch hat zwar keine epische Dringlichkeit, aber ein paar hübsche Geschichten – und einige sehr schöne.

Meera Nair: „Video“. Aus dem Englischen von Eike Schönfeldt. Kindler, München 2002, 253 S., 17,90 €