berliner szenen Brüderliche Botschaften

Hann isch vergess

Als ich meinem Bruder vom EBI, dem leisesten Club Berlins, erzählte, fragte er wenig überzeugt, ob dort auch getanzt würde. Manchmal, sagte ich, so gegen halb sechs. Aha, sagte mein Bruder und fügte kurz darauf in seiner unnachahmlichen Art hinzu: „Do musche dir e Hörgerät uffsetze und voll uffdrehe, dann geht’s.“ Mein Bruder ist natürlich jünger als ich, wie alle guten Brüder. Mein Bruder weiß, dass die ehemalige Rosenkönigin von Zweibrücken alle Texte der tolifecrew auswendig kann und ich weiß nicht mal, wie man 2LifeCrew schreibt.

Als mein Bruder das letzte Mal in Berlin zu Besuch war, beobachtete er etwas irritiert, wie eine Horde angetrunkener Mittdreißiger sich an den Händen fasste und versuchte, in Zungen zu reden. An diesem Nachmittag schlug er dann allerdings zwei Gästen von mir vor, sich so lange in die Augen zu schauen, bis etwas passieren würde. Und sie hörten nicht mehr damit auf, beide ebenso willensstark wie stur. Sie übergingen die Phase, in der die angespannte Situation durch den Ausbruch von Gelächter aufzulösen gewesen wäre, und machten weiter.

Nachdem sie sich mehrfach gegenseitig niedergestarrt hatten, ohne einen Gewinner zu ermitteln, hörten sie damit trotzdem nicht wieder auf, sondern hielten den Blick mit gekrümmtem Rücken. Ihr Bezug aufeinander verlor jede soziale Funktion und bekam eine künstliche, opake Qualität. Wie Worte, die man so oft wiederholt hat, bis sie nicht mehr zu gebrauchen sind, nichts mehr bedeuten und zu bizarren Objekten werden. Und als die Starrenden nach mehr als einer Stunde fragten, was denn zum Schluss passieren würde, bitte, meinte mein Bruder nur: Hann isch vergess. Das war toll.

MONIKA RINCK