Die übertünchte Katastrophe

Ein australische Journalistin hat ein Buch über die Ursache des Zerfalls in den Aborigines-Communities geschrieben und damit viel Aufsehen erregt

von JULIA REICHHARDT

taz: „White Out“, so heißt der Titel Ihres Buchs. Ist das ein Appell zum Rassismus mit umgekehrten Vorzeichen?

Rosemary Neill: Nein, white out, so heißt bei uns ein Deckweiß, mit dem man Schreibfehler abdeckt. Der Titel steht somit sinnbildlich für das Weglassen, Wegschauen, Übertünchen und die Zensur, mit der die Aborigines-Politik seit Jahren in diesem Land begleitet wird.

Die Situation in den Communities der australischen Ureinwohner ist katastrophal. Warum passiert nichts?

Weil weder die politische Linke noch die Rechte in diesem Land die Krise so darstellt, wie sie wirklich ist. Die Labor-Regierung und viele Aborigines-Aktivisten verschweigen die katastrophalen Zustände in den Communities und die schweren Fehler, die in ihrer Politik gemacht wurden und nach wie vor gemacht werden. Sie haben Angst, dass sie durch Selbstkritik der konservativen Regierung den Rücken stärken und ein negatives Bild von Aborigines in der Bevölkerung fördern. John Howards konservative Regierung auf der anderen Seite nutzt jede Schwäche von links, um seine eigene Politik durchzusetzen. Statt also gemeinsam ein Nothilfeprogramm zu starten, arbeiten die Parteien gegeneinander und lähmen eine erfolgreiche Aborigines-Politik.

Worin liegen die Unterschiede zwischen links und rechts in der Aborigines-Politik?

Seit den letzten drei Jahrzehnten verfolgte die Labor-Partei eine Politik der Versöhnung. Das heißt, statt die Aborigines zu zwingen, sich an die weiße Gesellschaft anzupassen, hoffte sie, durch Landrückgabe und eine Politik der Selbstbestimmung wieder gutzumachen und zu heilen, was Kolonialismus und die Assimilationspolitik der konservativen Regierung zerstört hatten. Die Labor-Regierung trug außerdem erheblich dazu bei, die Verbrechen um die stolen generation aufzudecken. Bis in die späten Sechzigerjahre hinein waren tausende von Aborigines-Kindern im Auftrag der damaligen konservativen Regierung von ihren Eltern gewaltsam getrennt und zwecks Assimilierung in weiße Familien gebracht worden. Das konservative Bündnis dagegen – seit 1996 mit John Howard an der Regierung – kritisierte Labor dafür, jenseits von Symbolik, keine praktischen Erfolge für die Aborigines erzielt zu haben. Howard setzte eine „Politik der praktischen Versöhnung“ dagegen, mit dem Schwerpunkt auf Wohnen, Gesundheit und Bildung. In Wirklichkeit betreibt er aber eine Politik der Vernachlässigung. Nach gewonnener Wahl stufte die Howard-Regierung die Aborigines-Politik zum Nebenjob herab: Ein einziger Minister – Philipp Ruddocks – ist seitdem für zwei große Ressorts zugleich verantwortlich, für Immigration und Angelegenheiten der Aborigines.

Sie beklagen in Ihrem Buch die Schwammigkeit des Begriffs „Selbstbestimmung“. Was verstehen Sie selbst darunter?

Selbstbestimmung bedeutet für mich, sinnvolle Möglichkeiten zu haben, sein Leben zu gestalten. Allzu leicht wird Selbstbestimmung aber von den Politikern als „Hände weg“- oder „Laisser-faire“-Politik ausgelegt, ein willkommener Vorwand, sich der Verantwortung um die Ureinwohner dieses Landes zu entziehen. Bestes Beispiel dafür war die Women’s Task Force 1999 in Queensland. Trotz erheblicher Drohungen aus ihrem Reservat forderten dort 50 mutige Aborigines-Frauen die Regierung auf, endlich etwas gegen die verheerende Gewalt zu unternehmen, der Frauen und Kinder tagtäglich in den Reservaten ausgesetzt sind. Zu lange hatte die Regierung weggeschaut, mit den fadenscheinigen Argumenten, dass Gewalt ein Teil der Kultur der Aborigines sei und Einmischung gegen das Recht der Selbstbestimmung verstoße.

Wie haben Sie recherchiert?

Ich habe mich bei meinen Recherchen auf die Communities konzentriert. Die Menschen, die dort arbeiten, sind tagtäglich mit den Problemen der Aborigines konfrontiert. Für sie steht die Überwindung der gegenwärtigen Krise im Vordergrund und nicht die politische Gesinnung. In den Communities traf ich auf Meinungen, die über das übliche Schwarz-weiß-Täter-Opfer-Raster hinausgehen. Noel Pearson, der Vorsitzende der Cape York Community ganz im Norden Australiens, zum Beispiel. Er wehrt sich gegen die Opferrolle, die Aborigines-Aktivisten ihren eigenen Leuten noch immer einreden wollen. Er sieht die Ursache der Krise nicht allein in der Vergangenheit, also in der Kolonisation und Unterdrückung der Ureinwohner, sondern ganz entscheidend in der heutigen staatlichen Fürsorge begründet. Von ihr hängt das Gros der australischen Ureinwohner ab. Pearson meint, dass sie den Aborigines jegliche Eigenverantwortung entziehe, sie stattdessen zu Passivität erziehe und so einen geeigneten Nährboden für Drogenkonsum und Gewalt bereite. Richard Trudgen, ein Sozialarbeiter aus dem Arnhem Land, ist ein anderes Beispiel. Er kritisiert die dortige Bildungs- und Gesundheitsmisere. Wie geht es an, dass Ärzte und Lehrer, die im Ausland arbeiten wollen, fundierte Fremdsprachenkenntnisse vorweisen müssen, in einer Aborigines-Community aber nicht ein Wort der dortigen Sprache beherrschen müssen? Das sind Beispiele für Menschen und Meinungen, die wir dringend brauchen, um endlich eine offene, ehrliche Debatte führen zu können.

Die USA, Kanada und Neuseeland sind – wie Australien – Industrienationen, die eine ähnliche Geschichte von Kolonisation und Unterdrückung haben. Trotzdem ist in diesen Ländern die Lücke zwischen der Lebenserwartung der Ureinwohner und dem Rest der Bevölkerung wesentlich kleiner. Wie erklären Sie, dass Australien mit einer Lücke von 20 Jahren so katastrophal abschneidet?

Ich sehe den Grund auch dafür in der Unfähigkeit unserer Parteien, miteinander zu kooperieren. Nehmen Sie die USA als Beispiel. Dort unterstützte selbst die konservative Reagan-Regierung damals eine Politik der Selbstbestimmung, sie beschleunigte sie sogar, blieb aber innerhalb dieses Rahmens offen und flexibel für Veränderungen. Das zeigt doch, wie starr und unbeweglich die Parteien in diesem Land, in Australien, sind.

Das heißt, Sie halten trotz der katastrophalen Ergebnisse, die eine Politik der Selbstbestimmung in Australien nach drei Jahrzehnten eingefahren hat, nach wie vor an diesem Weg fest?

Entscheidend ist doch, dass die Ureinwohner dieses Landes Selbstbestimmung wollen. Zu lange wurde ihnen gesagt, was sie zu tun haben. Selbstbestimmung muss also der Rahmen unserer Aborigines-Politik bleiben, innerhalb dieses Rahmens müssen wir jedoch vieles neu angehen und wesentlich flexibler werden.

Wie war die Reaktion auf Ihr Buch in Australien, vor allem darauf, dass es wieder eine weiße Autorin ist, die sich zur Aborigines-Politik äußert?

Die Reaktion auf das Buch spiegelte genau die Fronten zwischen Schwarz und Weiß, rechts und links wider, die ich in meinem Buch kritisiere: Den Linken war ich zu konservativ, den Konservativen zu links. Eine Verlegerin wollte mein Buch nicht veröffentlichen, weil ich eine weiße Autorin bin. Starken Zuspruch bekam ich vor allem von den Menschen aus den Communities.

Am wichtigsten aber ist mir, dass ich es mit dem Buch geschafft habe, eine neue, ehrliche Debatte – ohne Tabus – über die Aborigines-Politik in die Öffentlichkeit zu tragen: Das Buch wurde im Fernsehen und der Presse hierzulande heftig diskutiert.