Der fremde Blick

J. M. Coetzee setzt mit „Die jungen Jahre“ seine fiktionialisierte Autobiografie fort

J. M. Coetzee ist bekannt für seine Unzugänglichkeit und – ungewöhnlich in einer Welt öffentlicher Intellektueller – für sein Schweigen. Anders als etwa Nadine Gordimer ist er das Gegenteil des „engagierten Künstlers“. Dennoch hat er vor wenigen Jahren einen ganzen Band mit Essays zum Thema Zensur veröffentlicht. Nur gibt es darin, trotz seines Plädoyers gegen das Verbot, weder einfache Antworten noch moralische Sicherheiten. Niemand kann es selbstverständlich für sich beanspruchen, das richtige Handeln.

John, die autobiografische Figur aus Coetzees fiktionalisierten Memoiren, die er jetzt mit „Die jungen Jahre“ fortgesetzt hat, ist gar ein moralischer Idiot. Zumindest bezichtigt er sich selbst, wie schon der früh begabte Dreizehnjährige aus „Der Junge“, der Kälte und Herzlosigkeit. Mittlerweile ist er zwanzig und ein von Angst und Scham gelähmter „Kolonialer“ in London, dem Zentrum des Empire. Es ist 1962. Als Kind ist er vor der Brutalität der Wirklichkeit – nicht nur Gewalt gehörte dazu, sondern auch die Trostlosigkeit der Schwäche des Vaters und der bedingungslosen Liebe der Mutter – in die Welt der Bücher geflohen und bleibt ihr Gefangener. Er muss Dichter werden, denkt er, einer wie Eliot oder Pound, der das einsame Leiden kennt und sich strengen stilistischen Regimes unterwirft, erst dann kann er leben. Aber muss er, andererseits, nicht erst leben – lieben! –, um Künstler sein zu können?

John arbeitet als Computerprogrammierer und probiert es mit Affären – sie bleiben ohne Leidenschaft. Er versucht, die Leben der Dichter zu imitieren, verliebt sich in Emma Bovary und Monica Vitti. Er sieht sich permanent angeklagt von seiner inneren Inquisition, hängt fest „in einem immer schwächer werdenden Endspiel, bei dem er sich mit jedem Zug immer mehr in eine aussichtslose Lage manövriert“ und zu verschwinden droht. Dann, und das ist die winzige Öffnung, die Coetzee ihm und uns zugesteht, entdeckt er Becketts Romane und richtet sein Interesse auf Südafrika, das er eben noch für immer vergessen wollte. Der Leser weiß, dass dieser scheinbar so talentlose Angestellte wenige Jahre später erste Romane schreiben wird, die beide Inspirationen vereinigen.

Doch „Die jungen Jahre“ sind mehr als eine Rückschau auf den unfertigen Künstler: In der Klaustrophobie des in sich selbst Eingeschlossenen, der keiner Selbstgerechtigkeit fähig ist, im fremden Blick des reifen Autors auf die eigene Jugend, liegt der Schlüssel zu der Ethik, die Coetzees Bücher durchdringt: „Wenn er ein wärmerer Mensch wäre“, sinniert John, „würde er alles bestimmt leichter finden: das Leben, die Liebe, das Dichten.“ Doch möglicherweise wird der junge Mann gerade aus der Schwere der fehlenden Empathie heraus zum Moralisten von „Schande“ werden, dem jüngsten von Coetzees großen Romanen. Dessen Hauptfigur stößt auf die Grenzen der Einfühlung. Um handeln zu können, bleiben ihr Demut, Respekt und Notwendigkeit. KARSTEN KREDEL

J. M. Coetzee: „Die jungen Jahre“. Aus d. Engl. v. Reinhild Böhnke. Fischer, Frankfurt a. M. 2002, 223 S., 18,90 €