Der Kauz der Vorstädte

Für Radiohorcher und -horcherinnen: Die „Gesamtausgabe Ton“ zeugt von Karl Valentins Humor, mit dem er vieles kaputtschlug in Kunst und Leben

Von DETLEF KUHLBRODT

Bayern ist komisch. „In Bayern sind 60 Prozent der Bevölkerung Anarchisten und die wählen alle die CSU“, heißt es in „Servus Bayern“ von Herbert Achternbusch, und man denkt an den unbeugsamen Hanfaktivisten Hans Söllner und solche Leute. Bei Achternbusch, dem grad eine Großausstellung in München gewidmet ist, fällt einem gleich Karl Valentin ein, dessen „Gesamtausgabe Ton 1928 – 1947“ nun bei Trikont herausgekommen ist: Acht CDs, fast neun Stunden Spielzeit, acht kleine Heftchen mit Informationen zur Entstehung und Aufführung der einzelnen Szenen, Dialoge, Monologe, sowie jeweils einem Valentin-Text, außerdem noch ein kleines Büchlein mit sachkundigen Erläuterungen des Herausgebers Andreas Koll, dazu kürzere Texte von Herbert Achternbusch, Max Ophüls, Christoph Schlingensief, Georg Seeßlen, Hanna Schygulla und Valentin logischerweise, der 1882 in der Münchner Vorstadt Au, im ersten Stock links, das Licht der Welt erblickte. Später wurde er zum größten Popstar Münchens und am Rosenmontag 1948 starb er an den Folgen einer Lungenentzündung.

Anfangs hieß er Valentin Ludwig Fey. Die Kindheit war behütet, die Schulzeit „eine siebenjährige Zuchthausstrafe“; als Schreiner lernte er Särge zu tischlern und zog später als „Charles Fey, Musical-Fantast mit seinem selbsterfundenen Apparat“ – ein sechs Zentner schweres Orchestrion, auf dem er 20 Instrumente gleichzeitig spielen konnte – durch die Lande. Die ersten Erfolge kamen, nachdem er 1907, nach einer Volkssängervorstellung, ein Stegreifsolo machte und „das Aquarium“ vortrug. Valentin bekam Engagements, die wirtschaftliche Not hatte ein Ende und er begann, in Münchner Singspielhallen aufzutreten. 1911 lernte der Asthmakranke die ehemalige Hertie-Verkäuferin Lisl Karlstadt kennen, die ihm anfangs aushalf, wenn er wie häufig seinen Text vergessen hatte und ab 1913 seine unverzichtbare Partnerin auf der Bühne wurde. Während des Kriegs traten beide in Lazaretten auf.

In seinen letzten Jahren ging der Weg wieder nach unten: Valentin verdiente sich seinen Lebensunterhalt durch das Reparieren von Kinderspielzeug, weil das Publikum seine Art nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr mochte. Seine Briefe unterzeichnete er nun mit „ehemals Komiker, jetzt Scherenschleifer und Drechsler“ oder „lizenzierter Almosenempfänger“. Bei seinem Tod wog der spindeldürre Mann nur noch 49 Kilo.

Näheres bzw. weiteres über sein Leben, seine verquere Art, über die Rolle, die Lisl Karlstadt darin spielte, über die Bedeutung der Vorstädte Münchens, deren Einwohnerzahl zwischen 1840 und 1910 von 90.000 auf 600.000 anwuchs, den Stellenwert der Kultur der kleinen Leute, der Unterklasse, die sich in volkstümlichen Vergnügungsstätten amüsierte, auch weil die Wohnungen viel zu klein waren, und über die die Münchner Volkssänger als Popstars ähnlich wie John Lee Hooker oder Bob Marley anderswo das Selbstverständnis der Suburb-Bewohner formulierten, hat der Herausgeber Andreas Koll in schönen Texten geschrieben.

Seltsam, sich dies große Werk so anzuhören, und eine neue ästhetische Erfahrung. Man ist es ja nicht gewohnt, stundenlang im Zimmer zu sitzen und nichts zu tun außer zuzuhören. Als Nichtbayer muss man sich erst mal in den Dialekt hineinhören, den man anfangs ja überhaupt kaum versteht. Auch weil so viele Nebengeräusche dabei sind: das Kratzen der Grammofonnadel auf Schellackplatten, verschiedene Formen des Rauschens, manchmal meint man sogar von fern, geisterhafte Stimmen im Hintergrund zu hören.

Mit einem „liebe Radiohorcher- und horcherinnen“ begrüßt Karl Valentin irgendwann seine Hörer, und man stellt sich eine Familie vor, die gespannt und still am Sonntagsnachmittagstisch sitzt und sich der Stimme überlässt, die aus dem Apparat kommt, um in die Ohren reinzukrauchen. Wenn man so hört, ohne den Sprechenden zu sehen, meint man ihm näher zu sein als beim Fernsehen, das ja letztlich doch eher ein Distanzmedium ist; man spürt den Körper, der die Stimme erzeugte, durch den die Stimme mal ging, um sich dann in die Wachsplatte einzugraben. Seltsam.

Münchens erster Hörfunksender hieß „Deutsche Stunde in Bayern, Gesellschaft für drahtlose Belehrung und Unterhaltung“, wurde im September 1922 gegründet und ging am 30. März 1924 auf Sendung. Von 1928 datieren die ersten Aufnahmen der „Gesamtausgabe Ton“. Valentin spricht immer aus der Perspektive des niedriger Gestellten; die Komik kommt von unten, nicht von links – den Anbiederungen der linken Intelligenz, die ihn gern eingemeinden wollte (wie Tucholsky etc. pp.), hatte er sich stets entzogen. Vieles wird ständig kaputtgeschlagen, im Leben wie in der Kunst. Umständlich, in endlosen Abschweifungen geht’s so voran. Daher die Komik. Er singt ein Lied, „ die Uhr von Löwe“, bringt’s nicht zu Ende, weil er über Wörter stolpert, die ihn an anderes erinnern, dann erzählt er eben eine kleine Geschichte. „Übrigens, da fällt mir ein … dann habe ich mir bei ihm statt der Taschenuhr eine altmodische Wanduhr gekauft mit Bleigewichten und langen Messingketten und habe mir mit einem Hammer einen kleinen Nagel in die Brust geschlagen und die Uhr hingehängt. Aber es war entsetzlich. Unterm Kinn sind mir immer die beiden Gewichte zwischen die Füße gekommen und der Nagel hat mir wehgetan … – die Uhr von Löwe – leider kann ich Ihnen die Ballade nicht mehr ganz vorsingen, weil auf der Schallplatte dafür kein Platz mehr vorhanden ist. Schade. Eine Schallplatte müsste eigentlich einen Meter Durchmesser haben. Entschuldigen Sie also vielleicht vielmals den plötzlichen Schluss.“

Beim Hören von Valentin verlieren die Komiker der letzten 20 Jahre ein wenig an Originalität, weil es ja Valentin ist, auf dem sie aufbauten. Helge Schneider zum Beispiel, der natürlich trotzdem ganz groß ist und selbst Trappatoni, denn es war ja Valentin, der lange vor ihm gesagt hatte „Ich möchte nur mitteilen, dass ich jetzt schon fertig habe.“ Das Ton-Gesamtwerk von Karl Valentin ist wunderbar lustig, lehrreich, tragisch, komisch. Wenn man’s zum ersten Mal hört, kommt man sich vielleicht so vor wie jemand, der nun plötzlich die Beatles entdeckte.