Von Patriarchen und Indios

Der Schriftsteller Milton Hatoum idealisiert zwar leider die indigene Bevölkerung Brasiliens, hat aber auch viele Qualitäten. Der Roman „Asche vom Amazonas“

VON SASKIA VOGEL

Selbstverständlich hat der tragische Held eine mystische Vergangenheit. Raimundos Mutter Alícia kommt von „irgendeinem vergessenen Indiostamm“. Wie könnte es anders sein bei dem Protagonisten einer Romangeschichte, die im brasilianischen Manaus spielt? Ohne Indios kein Urwald.

Der Titel von Milton Hatoums Roman, „Asche vom Amazonas“, verleitet schnell dazu, ihn in die Kategorie „Kitsch“ einzuordnen. Zu klischeehaft sind unzählige ähnlich betitelte Werke. Im europäischen Bücherregal finden sich zumeist ach so schöne Abenteuergeschichten von ebenfalls europäischen Naturromantikern. Aber es gibt kaum signifikante Bücher von Schriftstellern aus Amazonien selbst. Die Region scheint keine Stimme zu haben, selbst in Brasilien nicht, in dem sich die literarische Produktion vornehmlich auf den industriell hoch entwickelten Südosten konzentriert. Sicher, mündlich tradierte Literatur ist in der nördlichen Urwaldregion lebendig erhalten. Doch indianische Mythen und Märchen liest man höchstens seinen Kindern vor.

Hatoum ist einer der wenigen Schriftsteller, die die Region auf dem internationalen Buchmarkt vertreten. „Asche vom Amazonas“ ist sein dritter Roman. Die Geschichte in Kürze: Der jugendliche Raimundo will Künstler werden. Sein Vater Trajano reagiert auf die „weibischen“ Ambitionen seines Sohnes mit brutaler Härte. Durch einen gezielten Schlag mit einem Ledergürtel trennt er ihm fast die Halsschlagader durch. Raimundo flüchtet, lebt erfolglos als Künstler in Berlin und London. Nur kurze Zeit später erliegt er einer tödlichen Krankheit, und erst auf dem Sterbebett erfährt er, dass Trajano, der patriarchalische Unterdrücker, gar nicht sein Vater ist. Erzählt wird hauptsächlich aus der Perspektive Olavos, des bescheidenen Freunds Raimundos und Beobachters der Familie. Die erzählte Zeit erstreckt sich von Mitte der 1960er- bis Ende der 70er-Jahre.

Als Kind libanesischer Einwanderer nimmt Hatoum (geboren 1952) im wirtschaftlich unterentwickelten Amazonien eine Sonderstellung ein. Zu einem der bedeutendsten Schriftsteller seines Landes wurde er auch deshalb, weil er das Privileg hatte, in São Paulo und in Europa zu studieren. Einerseits ermöglicht es ihm seine Zugehörigkeit zur Bildungselite, die gesellschaftlichen Probleme seiner Heimat mit Weitsicht zu erfassen. Gleichzeitig legt auch Hatoum die Außenperspektive nicht ganz ab; aus seiner privilegierten Position heraus schreibt auch er vornehmlich über statt aus dem Innern von Amazonien und betreibt eine exotische Idealisierung der indigenen Bevölkerung. So verkörpert Raimundos Mutter Alícia die angeblich existente „ungezähmte Wildheit“ Brasiliens par excellence, ihr rutscht gerne auch mal ganz kreatürlich-unbedacht der Busen aus der Bluse.

Doch obwohl „Asche vom Amazonas“ nicht frei von Kitsch ist, hat das Buch eine große politische Qualität. Hatoum ist neben Raduan Nassar der zweite bekannte brasilianische Schriftsteller mit arabischem Hintergrund – beide verbindet das Thema der übermächtigen Dominanz des Vaters. Doch was in Nassars Roman „Das Brot des Patriarchen“ (1975) nur als Allegorie verhandelt wird, wird bei Hatoum direkt kritisiert: „Asche vom Amazonas“ ist eine Anklage der Militärdiktatur, der skrupellosen Wirtschaftseliten Brasiliens, die das Land zwischen 1964 und 1985 gleichschalteten. Die Auswirkungen der Diktatur sind bis heute spürbar: ein korrupter Polizeiapparat, tägliche Verletzungen der Menschenrechte und ein brutales Vorgehen gegen Minderheiten. Trajano steht für das autoritäre Regime, er ist zudem Profiteur der Exportwirtschaft Amazoniens und duldet keine Opposition.

Die Geschichte von Raimundo, dessen Lebenspläne am Widerstand seines Vaters scheitern, ist zugleich die Geschichte eines Landes, das zwanzig Jahre lang brutal beherrscht wurde. Die Aufarbeitung der Militärdiktatur läuft in Brasilien äußerst schleppend. Dass Hatoum mit seinem Roman einen Beitrag zur Bewusstwerdung der Geschichte leistet, macht die Qualität des Buches aus.

Milton Hatoum: „Asche vom Amazonas“. Aus dem Portugiesischen von Karin von Schweder-Schreine. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2008, 298 Seiten, 24,80 €