Die Zunge in den Mund gesteckt

Die Galerie St. St. im Reuterkiez wird von drei Transvestiten betrieben. Die dort zu sehende Show Juwelias löst das aus, was Otto Muehl vergeblich versuchte: Ekstase pur, ein Dammbruch jeder Kontrolle, gepaart mit extremer Kontrollsucht

VON WOLFGANG MÜLLER

Etwas versteckt, am hinteren Teil der Sanderstraße liegt Berlins einzige von drei Transvestiten geführte Galerie. Die Initiatorin der Galerie St. St. im Reuterkiez, Transvestit Juwelia, ist seit vielen Jahren durch unangekündigte Kurzauftritte in Bars, Klubs und Kneipen bekannt. Ihr souveränes Understatement macht sie einzigartig in einer Szene, die ansonsten eher schrill, laut und billig um Aufmerksamkeit heischt. Als Juwelia ihre Performances noch im Nachtleben darbot, gingen sie oft im Lärm unter. Juwelias unvergleichliche Qualität wird erst deutlich sichtbar beim Besuch ihrer Studiogalerie. Hier stellt sie derzeit ein Programm mit dem Titel „Illusion“ vor.

Trümmertunten

Zunächst ein kleiner Rückblick: In den 1970ern gab es bei Romy Haag und Chez Nous die sogenannten professionellen Berliner Travestie-Shows, die vergeblich versuchten, an das glamouröse Image der wilden 1920er-Jahre anzuknüpfen. Sie wurden oft von Spießbürgern heimgesucht, die sich so ihrer Normalität vergewissern wollten. Daneben entstanden einige Dragszenen im alternativen Milieu. Diese blühten Ende der 1970er im Westen der Stadt auf und kreierten das glanzlos-graue und laute Bild der „Trümmertunte“. Geschmacklose Frauenkleider, hässliche Perücken, Broschen, Perlenketten, Handtaschen und Haarnetze gab es im Trödel massenhaft zu kaufen. Diese Szene, die Jürgen Baldiga und später Annette Frick fotografisch dokumentierten, zeichnete sich dadurch aus, dass sie mit der Nachkriegsästhetik und ihren fatalen Folgen spielt, sie dem Publikum nur bedingt gefallen möchte. Ihre Wut, ihre Aggression, die aus der Verdrängungsleistung der Eltern erwachsen, verwandelt sie zuweilen in einen kryptischen Insider-Kosmos, dessen Bezüge für Außenstehende kaum noch nachzuvollziehen sind.

Den erfolgreichsten Schritt vom Trümmertunten-Underground in die Öffentlichkeit vollzog wohl Ades Zabel. Mit „Edith Schröder – Aus dem Leben einer deutschen Hausfrau“ drehte er 1981 einen wunderbaren Super-8-Film, der die Sauberkeitsfantasien der Spießer und ihre Doppelmoral entlarvte. Hier wacht ein „Siedlungsschutz“, der „SS“ strengstens darauf, dass keine „Punks“ die sauberen Parkanlagen betreten. Derweil die amerikanische Schauspielerin Gayle Tufts, die Elemente des Schrillen und Penetranten aufnahm und geschickt mit dem Klischee der „Schwulenmutti“ vereinte.

Einzig die Kabarettistin Desiree Nick hat es geschafft, die Offenheit, die brutal spitze Zunge der bösartigen Berliner Tunten, die eben auch gelegentlich auf Kosten der Frauen ging, so genial zu größter Meisterschaft zu bringen, dass ausgerechnet mit ihr, einer Frau, sich das Zeitalter der gehässigen, lästernden, verletzenden Berliner Trümmertunte dem Ende neigte. Aber nun zurück ins Studio St. St.: Kunst, Travestie, Erotik, Kabarett und Literatur verspricht der Salon. Die Wände sind geschmückt mit den Gemälden von Juwelia, die in ihrer Luftigkeit an die Bilder von Raoul Dufy und französische Illustrationen der 50er erinnern.

Sie schlug mich

Im vorderen Salon werden die Gäste vom charmanten Concierge Rüdiger freundlich mit Sekt begrüßt und können anschließend mit Beverly Schnett eingehend über den Kapitalismus diskutieren. Zur Anschauung zeigt der Transvestit einen roten Ballon: das Geld der armen Leute. Und einen gelben: das Geld der reichen Leute. Es quietscht furchtbar, als die Luft aus der Blase steigt. Allmählich füllt sich die Galerie. Nachdem sich die knapp zehn Besucher aufgewärmt haben, werden sie in den mit Blumen geschmückten Bühnenraum gebeten. Während Juwelia die winzige Bühne betritt und ihre Stimme zum Gesang anhebt, flüstert ein bärtiger Mann in mein Ohr: „Sie schlug mich, Juwelia hat mich vorhin geschlagen. Und dabei bewundere ich sie so sehr!“ Dabei streichelt er zärtlich mein Knie. An meinem anderen Ohr analysiert Crystal-Ball-Galerist Manfred Kirschner aufgeregt drei junge Männer, die wie erstarrt auf dem Sofa sitzen: „Die verstehen überhaupt nicht, was hier geschieht. Schau nur! Schau nur!“

Juwelia aber setzt ihre Vorstellung unbeirrt fort. Ihre Show nimmt das Thema „Illusion“ wörtlich. Statt duftender Rosenblätter streut sie tiefe Zweifel. Statt Gewissheit zu vermitteln, stellt sie bohrende Fragen: „Bin ich schön oder bin ich doch nicht schön? Was meinst du? Oder was meine ich?“, singt sie. Aber hat die Künstlerin keine Lust gehabt, sich für ihre Show umzuziehen? Sie tritt in Jeans, Herrenhemd und rotem Riesenhut auf. „Ich bin heute als Dragking gekommen“, beantwortet sie hellseherisch die Frage des Publikums.

Gnadenlose Energie

Ihre zauberhafte Kollegin Zsa Zsa, geboren 1974 in Spandau, lächelt vielsagend im eleganten, cremefarbenen Cocktailkleid und nippt an einem Fruchtsaft. Die Atmosphäre, die Juwelias Illusionsshow auslöst, ist extrem. Das Publikum scheint immer mehr durchzudrehen, eine Neurose nach der anderen offenbart sich und plumpst unerwartet in den Raum. Je feiner Juwelia ihre Netze spinnt, je dezenter ihre Anspielungen werden, umso mehr Spannungen entladen sich unter den Zuschauern. Es scheint, dass der rehäugige junge Mann in der ersten Reihe lediglich den Auslöser seines Fotoapparats betätigt, um nicht von dem ihn umgebenden Wahnsinn infiziert zu werden. Nur so kann er Contenance bewahren. Zwei Frauen preschen eilig nach vorn, unterhalten sich völlig atemlos und angeregt, ohne sich dabei wahrzunehmen. Ihre Sätze verklumpen im Tempo zu wirren Knäueln, im nächsten Moment stürzen sie auseinander und sichten neue Opfer, die sie mit gnadenloser Energie volltexten.

Juwelias Show löst vielleicht das aus, was Otto Muehl mit seiner Aktionsanalyse AAO vergeblich versuchte: die totale Entäußerung, Ekstase pur, ein Dammbruch jeder Kontrolle, gepaart mit extremer Kontrollsucht. Wie im Rausch stürze ich auf die Straße, wo eine Stimme über die Straße hallt: „Nein, ich hab meine Zunge nicht in seinen Mund gesteckt! Das ist überhaupt nicht wahr!“ Mit dem Fahrrad entkomme ich dem Inferno. Ein großartiger Abend.

Studio St. St., Sanderstraße 26, Berlin Programm: www.cafe3000.de