Alte Weggefährten

25 Jahre nach der Weltrevolution am WG-Tisch: Anselm Weber inszeniert die „Frankfurter Verlobung“, das nachgelassene Stück von Matthias Beltz. Ganz Frankfurt war bei der Premiere dabei. Nur Joschka Fischer fehlte. Der war gerade beim Papst

Die Gewaltfrage wurde damals am Küchentisch ganz beiläufig abgehakt

von FLORIAN MALZACHER

Der erste Akt war schon vorbei, als das Stück begann: Der Spiegel widmete der Aufführung vorab eine ganze Seite, die FR gleich zwei. Sämtliche Vorstellungen waren lange schon ausverkauft, jeder denkbare Stadtprominente über fünfzig nach seiner Meinung befragt. Frankfurt, genauer: eine Generation Frankfurter genoss es unübersehbar, im Mittelpunkt zu stehen, und sei es auch nur im eigenen. Vor allem eine Frage wiederholte sich: Wird der Minister kommen?

Er kam nicht, er war beim Papst. Also filmten die Kameras im Minifoyer des Kleinen Hauses jedes andere verfügbare Gesicht: Hilmar Hoffmann, Reich-Ranicki, Cohn-Bendit, den Kulturdezernenten. Nun sind die ja durchaus auch sonst gelegentlich bei Premieren zu sehen. Und auch Joschka Fischer, dessen Frankfurter Wohnung keine fünf Fußminuten vom Schauspielhaus entfernt liegt, ist ab und an wohl in der Stadt. Warum also so viel Aufhebens?

Das Drumherum gehörte diesmal ganz einfach mit dazu. Alle spielten mit, und das gerne – selbstverständlich selbstironisch. Die Uraufführung der „Frankfurter Verlobung“, des nachgelassenen Stücks des im vergangenen Jahr überraschend gestorbenen Kabarettisten Matthias Beltz, hatte etwas von einem Klassentreffen – wenngleich nicht nur der Minister fehlte. Denn Beltz war in Frankfurt nicht irgendein Kabarettist, er war gleichzeitig Teil, Kommentator und Interpret jener besonderen Frankfurter 68er-Geschichte des Häuserkampfes.

Man kann sich das ungefähr – und nicht völlig verkehrt – so vorstellen: Beltz, Fischer, Cohn-Bendit und Johnny Klinke (heutiger Direktor des Varietees „Tigerpalast“) sitzen Anfang der 70er an einem WG-Tisch und diskutieren über die Weltrevolution. Heiner Goebbels musiziert in einem anderen Zimmer, und draußen filmt Alexander Kluge das besetzte Haus. Ab und an kommt ein Terrorist zum Essen.

In eben so einer Wohnung setzt Beltz' Stück ein, rund 25 Jahre später. Inzwischen wohnt hier nur noch einer, der zahlt längst Miete und ist Anwalt geworden. Heute, am 11. September 2001, feiert er seine Verlobung mit einer etwas jüngeren Frau. Als Gäste sind geladen: der erwachsene Sohn seiner Verlobten, dessen Freundin und ebenjener Minister, der alte Weggefährte.

Der Text lebt von seinen oft brillanten Formulierungen, von seinen Aphorismen und Zuspitzungen. Es ist ein Konversationsdrama mit wenig Handlung, aber auch wenig eigener Spannung. Psychologische Tiefe hat es nicht, auch wenn es sie teilweise behauptet – doch genau auf die setzt Anselm Weber in seiner Inszenierung.

Vor allem den beiden Jüngeren, die längst in einer Welt leben, wo sich BWL- und Philosophiestudium nicht mehr widersprechen, hat er jede Leichtigkeit und jeden Humor ausgetrieben. Peter Moltzen als Sohn Johannes trägt zwar eine nazibraune Krawatte und Springerstifel, ist aber ansonsten ein guter Kerl, etwas naiv, aber nicht doof; wie auch seine Freundin Mascha (Katrin Grumeth) in ihrer anstrengenden Besserwisser-Bratzigkeit sicher kein schlechter Mensch ist. Doch sie sind dazu verdammt, alles so meinen zu müssen, wie sie es sagen – als hätten sie das „Ende der Ironie“ zu ihrem Lebensmotto auserkoren. Ein Kammerspiel jedoch, das gibt der Text nicht her, so vielschichtig und ambitioniert er auch ist. Als Tschechow wird er nur behäbig.

Franziska Walser als Verlobte hat's da etwas besser, ihre Beziehung lebt von einem grundironischen Umgang, der Ehrlichkeit und Zuneigung nicht auszuschließen scheint. Stehen oder fallen aber muss der Abend mit dem Darsteller des Rechtsanwalts, dem unverkennbaren Alter Ego von Matthias Beltz. Und Edgar Selge schafft es, mit einer fulminanten Mischung aus Ironie, Ernst, Trauer, Verlust und Missmutigkeit das Tempo zu steigern, Pointen zu setzen und zugleich eine zersetzende Enttäuschung ahnen zu lassen.

Wenn er darüber monologisiert, wie einst die „Gewaltfrage“ beiläufig am WG-Küchentisch abgehakt wurde und anschließend ein Molotowcocktail (aus Ministerhand?) einen Polizisten lebensgefährlich verletzte, dann ist auch Beltz' bissiger Humor Verwundung und Ernst. Damals, 1975, es war auch ein 11. September, da ist etwas kaputtgegangen, das wird ganz nebenbei so deutlich und so tragisch, dass es andere Aufladungen und Bedeutungshubereien gar nicht bräuchte.

Der Minister jedenfalls kommt auch im Stück nicht, ihm kam ein neuer 11. September dazwischen. Der Abwesende, um den sich alles dreht, ist sowieso nicht er, das ist Matthias Beltz, den in Frankfurt jeder kannte und hier im Publikum erst recht. Und der diese Uraufführung mit ihrem Drumrum irgendwie mitgeschrieben zu haben scheint. So ist das Ereignis besser als das Stück und allemal besser als die Inszenierung. Und am allerbesten ist an diesem Abend Edgar Selge.

Aber der ist leider kein Frankfurter.