berliner szenen Falscher Walzer

Die Welt der Amélie

Heute hatte ich für einen Moment das Gefühl, in die fabelhafte Welt der Amélie getaucht zu sein. Es geschah in der U7, irgendwo zwischen Mehringdamm und Hermannplatz. Vor mir saß ein Mädchen mit auffällig dunklem, gerade geschnittenem Pony. Ihre Lippen und ihr Pullover waren rot, und auf ihrem Schoß lag ein Streifen Passfotos. Sie sah aus, als spräche sie mit französischem Akzent. An der Tür hinter ihr stand ein Mann mit einem Plastikeimer in der Hand, aus der die Zipfelmütze eines Gartenzwergs herauslugte. Ein Musiker mit zerbeultem Akkordeon stieg in die Bahn. Er nickte in die Runde und legte mit einem Walzer los.

Der Walzer hatte einen Viervierteltakt, und mit einem Mal wurde mir richtig bewusst, dass ich wieder in Berlin angekommen war. Zuvor war ich einige Wochen in der Schweiz gewesen. Jetzt musste ich daran denken, dass in der selbsternannten Museumsstadt Winterthur Straßenmusiker auf der Polizeistation zwei bis drei Lieder vorspielen müssen, um eine Auftrittsbewilligung zu erhalten. Auch hatte ich gelesen, dass es nicht unüblich sei, auffällig schlecht spielende Musiker auf die Wache zu bitten.

Das mag man gut finden, lustig oder schlimm. Ich jedenfalls habe meinen Geldbeutel hervorgeholt, als der taktlose Akkordeonist mit seinem gezogenen Hut herumgelaufen ist. Leider hatte ich nur einen halben Franken und zwanzig Rappen übrig. Verschämt steckte ich den Geldbeutel zurück in den Rucksack. Als ich wieder aufgeblickte, war nicht nur der Musiker, sondern auch der Mann mit dem Zwerg verschwunden. Amélie war noch da. Jemand fragte sie nach der schnellsten Verbindung zum Alexanderplatz. „Sorry, I don’t understand“, sagte sie höflich mit britischem Akzent. LENA HACH