Die trügerischen Bilder vom Ich

Verloren in den vielen Angeboten der Identifikation: Thomas von Steinaecker verschaltet in seinem zweiten Roman „Geister“ Comic- und Erzählebene. Ein tricky konstruierter Einblick in den Gewissheitsverlust der Mediengeneration

„Der Roman ist eine Insel, und wer ihn schreibt, ist Robinson – schlecht für ihn, gewiss. Aber noch schlechter, wenn er’s nicht ist – für ihn und auch für den Roman.“ Sten Nadolny

VON GISA FUNCK

Man könnte die Geschichte des modernen Romans auch als eine Geschichte von Wahnvorstellungen erzählen. Schon Cervantes’ Don Quichotte verrennt sich, nachdem er zahlreiche Rittergeschichten gelesen hat, ins Trugbild des heroischen Recken.

Geister sind also keineswegs nur etwas für Grusel- und Schauergeschichten, sondern gehören zur psychischen Grundausstattung des modernen Romanhelden. Das ist nun auch in Thomas von Steinaeckers neuem Roman so, wenngleich dessen Titel spendende „Geister“ medial aufgerüstet und postmodern getunt daherkommen. Statt aus Büchern sucht sich sein Hauptheld Jürgen nämlich eine trügerische Wunschidentität aus Film- und Comicbildern zusammen. Leidet Jürgen doch unter einem familiären Trauma. Bevor er geboren wurde, ist seine damals sechsjährige Schwester Ulrike spurlos verschwunden. Wahrscheinlich wurde sie missbraucht und ermordet. So genau weiß das niemand. Ein Gerichtsverfahren gegen den mutmaßlichen Täter wurde eingestellt, Ulrikes Leiche nie gefunden.

Die verschollene Schwester wird für den Bruder auf diese Weise zum Phantom, das er nur von Fotos und zwei Dokumentarfilmen her kennt. Im ersten Film kann sich Jürgen bei seiner eigenen Geburt zuschauen. Im zweiten mimt er den coolen 18-Jährigen, der dem Regisseur erzählt, den Mörder Ulrikes am liebsten umbringen zu wollen, weil das doch eine „schöne Erzählung“ ist. Aber trotz der eigenen Erfahrung, vor der Kamera aus purer Lust am Effekt zu lügen, speichert Jürgen die Aufnahmen als Erinnerung an die unbekannte Vergangenheit ab. Oder, wie er einmal resümiert: „Er war froh, diesen Film gesehen zu haben, zu wissen, wie es gewesen ist.“

Die nicht gelebte Erfahrung wird durch Bilder ersetzt. Schon als Teenager kommt Jürgen sein Leben darum wie ein virtueller Fernsehplot vor, bei dem er gern „Schnelldurchlauf“ spielt. In solchen Momenten stellt er sich vor, was in der nächsten Stunde sein wird, am nächsten Tag, in den nächsten Jahren. „Er muss mit diesem Zukunftsding aufhören“, ruft sich Jürgen zwar später als Erwachsener zur Räson, „damit sich vorzustellen, was einmal sein könnte oder hätte gewesen sein können, während er in der Gegenwart gar nicht wirklich da ist.“ Seine Lähmung aber wird er trotzdem nicht los, wie ein Unbeteiligter auf sein Dasein als Abfolge austauschbarer Filmszenen zu blicken.

Mit Jürgens verschwundener Schwester präsentiert von Steinaecker eine Figur, die symbolisch für einen spezifischen Gewissheitsverlust der Mediengeneration zu stehen scheint. Im Nebeneinander tausendfach zitierter und zum Klischee geronnener Lebensmodelle hat sie Schwierigkeiten, noch zu einer ureigenen, „wahren“ Geschichte zu finden. Sogar seine Begegnung mit einem indischen Guru, nach der Jürgen endlich einmal das Gefühl einer „Bestimmung“ hat (er beschließt danach, Masseur zu werden), hat für von Steinaeckers Protagonisten darum etwas von schaler Erfüllung eines Rollenmusters an sich.

Medial vermittelte Bilder, das ist eine zentrale Aussage des Romans, beeinflussen menschliche Handlungen heute mindestens ebenso nachhaltig wie Texte. Und so kommt es in „Geister“ konsequenterweise zur vollständigen Umkehrung der Wahrnehmungsebenen, als Jürgen im zweiten Teil die Comiczeichnerin Cordula trifft. Nicht die reale Berufswelt erscheint ihm von nun an wie das wahre Leben, sondern die simulierte Welt von Cordulas Zeichnungen, in der er schließlich selbst als Figur auftritt. Cordula nämlich gesteht Jürgen, sich die Identität seiner verschollenen Schwester Ulrike geborgt zu haben, um sie auf dem Papier als „Ute“ neu auferstehen zu lassen. Als „Deal“ schlägt sie ihm vor, ihren Ute-Comic mit Episoden aus seiner Vergangenheit weiterzuführen, deren Bilder dann in Jürgens Kopf ihre eigene Dynamik entwickeln.

Wie schon in seinem Debüt „Wallner beginnt zu fliegen“, in dem von Steinaecker das traditionelle Schema des Familienromans aufbrach, testet er auch in „Geister“ die Grenzen des Genres aus und schickt seinen Helden diesmal durch die Kanäle der Medientheorie. Sein Roman ist erneut ein experimentelles Spiel, bei dem der Comic-Liebhaber von Steinaecker nicht zuletzt der grafic novel zu mehr Anerkennung verhelfen will. Wie schon Don Quichotte aber scheitert auch sein Jürgen am Ende klassisch, indem er versucht, sein wirkliches Leben mit seinen Wunschbildern aus dem Comic zu verschalten. Die Liebesaffäre, die mit der schick gezeichneten Ute so einfach war, endet mit der realen Cordula im Desaster. Das ist alles tricky konstruiert, mit vielen Verweisen von Hauffs Märchen „Kalif Storch“ bis zu romantischen Doppelgängermotiven unterfüttert. Und lebt beim Lesen von der Verknüpfung von Text- und Bildebene.

Thomas von Steinaecker: „Geister“. Mit Comics von Daniela Kohl. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main2008, 224 Seiten, 19,80 €