Mangelhaftes Werkzeug

Die Finanzkrise zwingt die Europäische Union auch in der bisher zersplitterten Finanzpolitik zu einheitlichem Handeln

Wegen innenpolitischer Querelen hat Polen den Spott seiner EU-Partner auf sich gezogen: Kurz vor Beginn des Gipfeltreffens der Staats- und Regierungschefs am Mittwoch belegte Regierungschef Donald Tusk Präsident Lech Kaczyński mit einem „Reiseverbot“. „Wir haben den Präsidenten informiert, dass die Delegation […] aus dem Außenminister, dem Finanzminister und dem Regierungschef besteht“, sagte Tusk. Die Regierung erklärte, sie werde Kaczyński kein Flugzeug für die Reise zur Verfügung stellen. Der Präsident charterte daraufhin einen Privatjet. AFP

AUS BRÜSSEL DANIELA WEINGÄRTNER

Ein übermüdeter Jean-Claude Juncker sorgte nach dem Krisengipfel der Euroländer vergangenen Sonntag für einen Moment unfreiwilliger Komik. Man habe sich auf einen „Besteckkasten“ zur Bewältigung der Krise geeinigt, sagte der Chef der Eurogruppe und luxemburgische Premier vor laufenden Kameras. Das dürfte manchen Fernsehzuschauer daran erinnert haben, dass es ums nationale Tafelsilber der 27 Mitgliedsstaaten geht. Auf 2 Billionen, also 2.000 Milliarden Euro, schätzt die EU-Kommission das Hilfspaket aus Garantien, Bürgschaften und Finanzspritzen, wenn die Maßnahmen aller EU-Länder zusammengezählt werden.

Nun beugen sich in Brüssel die Fachleute der Abteilungen Binnenmarkt, Wettbewerb und Währung über die Beschlüsse. Sie müssen dafür sorgen, dass der gute Wille zu abgestimmtem Handeln in rechtlich wasserdichte, mit den Binnenmarktregeln vereinbare Regelungen umgesetzt wird. Zum einen werden langfristige Maßnahmen wie verschärfte Eigenkapitalvorschriften für Banken aufs Tapet gebracht, die allenfalls bei der nächsten Krise ihre Wirkung entfalten können. Vor allem aber geht es um Schadensbegrenzung beim aktuellen Crash. In einem Leitfaden hat die Kommission zusammengefasst, wie Staatsbeihilfen und Bürgschaften aussehen müssen, um mit den Binnenmarktregeln vereinbar zu sein (siehe unten).

Die Tatsache, dass zum ersten Mal in der Geschichte des Euro die Staatschefs der Währungsunion zu einem Sondergipfel zusammenkamen, zeigt die Dimension der Krise. Kommissionspräsident Barroso teilte der Welt hinterher mit, sämtliche Beschlüsse gründeten in Vorschlägen seines Hauses. Damit will er wohl den Vorwurf entkräften, dem wild wuchernden Kasinokapitalismus jahrelang tatenlos zugesehen zu haben.

Während das Europäische Parlament die Kommission mehrfach aufforderte, Hedgefonds und sogenannte Wagnisfinanzierungsgesellschaften strenger zu kontrollieren, winkten die Mitgliedsstaaten stets ab. Sie wehren sich gegen noch mehr Einmischung aus Brüssel und stehen europäischen Regulierungsbehörden zunehmend misstrauisch gegenüber.

Die EU-Kommission fügte sich, um die europafeindliche Stimmung in den Hauptstädten nicht weiter anzuheizen. Nun muss sich Barroso vorwerfen lassen, zu defensiv gehandelt und keine kluge Personalpolitik betrieben zu haben.

Der für die Binnenmarktgesetzgebung zuständige irische Kommissar Charlie McCreevy kommt seit Monaten nicht aus dem Schmollwinkel heraus, weil sein Traum von einem unregulierten Dienstleistungsmarkt im EU-Parlament keine Mehrheit fand. Er legt einfach keine neuen Gesetzentwürfe mehr vor, als würde er denken: Entweder das Parlament oder die Regierungen werfen mir ja doch wieder einen Knüppel zwischen die Beine.

Statt McCreevy ein weniger wichtiges Ressort zu geben, hat ihn Barroso zusammen mit Währungskommissar Joaquín Almunia und der ebenfalls umstrittenen Wettbewerbskommissarin Neelie Kroes in die neue Finanzkrisensondergruppe der Kommission berufen. Der Niederländerin wird zwar attestiert, in der aktuellen Krise schnell und unbürokratisch zu reagieren und die Wettbewerbsregeln flexibel auszulegen; bei ihrer Ernennung hatte das EU-Parlament aber ihre neoliberale Grundhaltung und ihre engen Geschäftsverbindungen zu mehreren großen holländischen Unternehmen kritisiert.

Da er nicht auf feste Strukturen wie eine europäische Bankenaufsicht zurückgreifen könne, müsse er eben Ad-hoc-Gremien einberufen, erklärte Barroso vor dem Herbstgipfel in Brüssel. Doch die Neigung, ungeklärte Fragen in Expertengruppen zu verlagern, ist in der Kommission auch in ruhigeren Zeiten sehr ausgeprägt. Der 79-jährige international anerkannte Finanzfachmann Jacques Martin Henri Marie de Larosière de Champfeu soll mit einer hochrangigen Beratergruppe Ideen entwickeln, wie künftigen Crashs vorgebeugt werden kann. Als Chef des IWF rettete Larosière einst Südamerika vor dem finanziellen Zusammenbruch. Das war allerdings Anfang der 80er-Jahre.

Doch Barroso hat recht, wenn er nach europäischen Strukturen ruft. 8.000 Banken gibt es in der EU, zwei Drittel davon sind in der Hand von 44 grenzüberschreitenden Konsortien und operieren in bis zu 15 Mitgliedsstaaten. Doch in jedem Land gelten andere Gesetze; die Bankenaufsicht hat nur den nationalen Markt im Blick, europäische Kontrolle fehlt. Eine europäische Bankenaufsicht muss her, aber damit allein ist es nicht getan. Mittelfristig braucht der Binnenmarkt eine abgestimmte Wirtschaftspolitik – und das schließt Sozialpolitik mit ein. Denn Unternehmen wandern nicht nur dorthin ab, wo die Umweltauflagen am lockersten sind. Auch niedrige Sozialstandards ziehen sie magisch an. Diesem Sozialdumping kann nur mit einer europäischen Mindestgesetzgebung begegnet werden, die von Mitgliedsstaaten und EU-Parlament gemeinsam ausgearbeitet werden muss.

Beim Europäischen Sozialgipfel gestern in Brüssel, der dem Treffen der Staatschefs vorgeschaltet ist, forderte die Gewerkschaftsvertreterin Lundby Wedin Änderungen an der Entsenderichtlinie: „Ein tschechischer Arbeiter hat in einem schwedischen Werk die gleichen Rechte wie sein einheimischer Kollege. Schickt ihn aber ein tschechischer Betrieb nach Schweden, ist es legal, wenn er weniger Lohn und weniger Sozialleistungen bekommt.“

Die europäische Wirtschaftspolitik muss endlich die demokratische Legitimation bekommen, die ihrer Tragweite entspricht. Während auf nationaler Ebene staatliche Maßnahmenpakete vom Parlament abgesegnet werden müssen, wie diese Woche das Stützungspaket der Bundesregierung von Bundestag und Bundesrat, findet das europäische Krisenmanagement unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Mit ernsten Gesichtern verschwinden die Staatschefs und die mit dem Thema befassten Kommissionsmitglieder hinter verschlossenen Türen, um hinterher zu erklären, man habe sich auf einen „Werkzeugkasten“ zur Bewältigung der Krise geeinigt. Die Bürger wüssten aber gern, ob nun Nägel mit Köpfen gemacht werden oder doch das Tafelsilber futsch ist.