Belgisches Gericht gegen Scharon

Ein Prozess gegen den israelischen Regierungschef wegen eines Massakers in palästinensischen Flüchtlingslagern im Libanon ist nach Ende seiner Amtszeit möglich. Die Regierung in Jerusalem ruft ihren Botschafter aus Protest zu Beratungen zurück

aus Jerusalem SUSANNE KNAUL

Mit Unverständnis und Zorn hat die israelische Regierung auf ein Urteil eines belgischen Berufungsgerichts reagiert, das eine Strafverfolgung von Premierminister Ariel Scharon nicht länger ausschließt. Außenminister Benjamin Netanjahu berief gestern den israelischen Botschafter aus Brüssel zu Beratungen zurück. Das Urteil bedeute „einen Angriff gegen das israelische Volk und sein Recht auf einen Platz unter der Sonne“, meinte Netanjahu. Belgien verletze damit den „globalen Kampf gegen den Terror“.

Im Juni hatte ein belgisches Gericht eine Klage abgewiesen, die von Überlebenden des Massakers in Sabra und Schatila 1982 im Libanon eingereicht worden war. Scharon trug als Verteidigungsminister damals die Verantwortung für die Ermordung mehrerer hundert Palästinenser, die in den beiden Flüchtlingslagern bei Beirut von christlichen Milizen überfallen worden waren. Die Falangisten waren damals mit Israel verbündet.

Das Revisionsurteil erlaubt eine Anklage wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit erst nach Ablauf von Scharons Amtszeit als Regierungschef. Demgegenüber streitet Israel Belgien grundsätzlich das Recht ab, Ausländer, die sich nicht in Belgien aufhalten und deren Vergehen keinen Bezug zu Belgien haben, zur Verantwortung zu ziehen.

Obschon das Urteil einen tiefen Schatten auf die diplomatischen Beziehungen zwischen den beiden Ländern wirft, rechnen politische Beobachter derzeit nicht mit einem endgültigen Abzug des Botschafters. Bevor über konkrete Maßnahmen entschieden werde, wolle man das belgische Urteil genauer studieren, verlautete aus dem Außenministerium. Alon Liel, ehemals Generaldirektor im Außenministerium, warnte gegenüber dem Armeeradio vor einer vorschnellen Abberufung des Botschafters. „Wir dürfen nicht vergessen, dass es sich um ein Gerichtsurteil handelt, nicht um eine Regierungsentscheidung.“

Die diplomatische Krise könnte eskalieren, wenn es zu Prozessen gegen den damaligen Stabschef Rafael Eitan oder den Kommandanten der Division, die die beiden Lager umstellte, Amos Jaron – heute Generaldirektor im Tel Aviver Verteidigungsministerium – kommt. Beide unterstehen keiner Immunität und könnten nach belgischem Recht umgehend vor Gericht gestellt werden. Gegenüber der Tageszeitung Ha’aretz erklärte Jaron, dass ihn das „schlimme Urteil“ nicht beunruhige, da er ohnehin nicht beabsichtige, nach Belgien zu reisen.

Möglich ist, dass der Gerichtsentscheidung weitere Anklagen folgen. So war von palästinensischer Seite wiederholt der Vorwurf eines Massakers hinsichtlich der israelischen Militäroperation im Flüchtlingslager von Dschenin im vergangenen Frühjahr erhoben worden. Auch um die gerichtliche Verfolgung der eigenen Soldaten im Ausland zu verhindern, lehnte Israel im Anschluss an die Operation eine Untersuchung der Vorgänge seitens einer UNO-Kommission ab.

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