Nordkoreas Muskelspiele fordern Japan heraus

Die Falken rühren sich im pazifistisch verfassten Inselstaat Japan. Nordkorea ist der Auslöser für eine neue Debatte über den Einsatz der Streitkräfte

TOKIO taz ■ Militärische Aufrüstung ist in Japan derzeit kein Schimpfwort. Im Gegenteil, täglich werden neue Szenarien für den Schutz vor Raketen und Bomben aus Nordkorea in den nationalen Zeitungen erörtert. Am Montag kündigte die führende Wirtschaftszeitung Nihon Keizai Shimbun an, dass der Inselstaat schon im April 2004 zusammen mit den USA an einem Test zum Abfang feindlicher Raketen in Hawaii teilnehmen wird.

Die Militärübung wird als Vorspiel zur Stationierung eines satellitengestützten Raketenabwehrsystems gesehen. Der Test allein wird 160 Millionen Euro kosten, und Japan will modernste Kriegsschiffe, die mit dem Ägis-System für gesteuerte Raketen ausgestattet sind, in den Pazifik entsenden. Mitte 2005 wird die Entscheidung über die Stationierung des neuen Waffensystems fallen. Milliardeninvestitionen würden danach anstehen. Star Wars auf Japanisch lässt grüßen.

Der jüngste Schritt ist nur ein Teil in einer neuen Sicherheitsdiskussion, die seit dem Ausbruch der Nuklearkrise auf der koreanischen Halbinsel ausgebrochen ist. In Tokio führen die Falken das Wort. So etwa in der vergangenen Woche, als Verteidigungsminister Shigeru Ishiba selbst einen Präventivschlag Japans gegen den drohenden Nachbarn nicht mehr ausschließen wollte. Später relativierte er seine Ausführungen etwas und sagte, dass Japan mit Hilfe des Bündnispartners USA auch einem Erstschlag zustimmen würden. Ishiba stellte sich damit klar hinter eine militärische Option im Konflikt auf der koreanischen Halbinsel und fügte hinzu, dass Japan im Falle eines Raketenangriffs aus Nordkorea sicher militärisch zur Selbstverteidigung antworten würden.

Das sind völlig neue Töne aus dem Inselstaat mit einer betont pazifistischen Verfassung, die den Streitkräften bis vor kurzem den Einsatz außerhalb der eigenen Seegrenze nur in Ausnahmesituationen erlaubt. Unter der Regierung von Ministerpräsident Junichiro Koizumi werden die pazifistischen Grundsätze der Verfassung aber schrittweise aufgeweicht. Er boxte kurz nach dem 11. September 2001 ein Ausnahmegesetz durch, das es den japanischen Seestreitkräften erst einmal für zwei Jahre erlauben sollte, im Kampf gegen den Terrorismus außerhalb der nordostasiatischen Hoheitsgewässer aktiv zu werden. So kreuzten schon während des Afghanistankrieges japanische Versorgungsschiffe im Indischen Ozean, und nun hat Koizumi wiederum fünf Schiffe entsandt, um die USA und ihre Verbündeten in einem allfälligen Irakkrieg zu unterstützen.

Während diese militärischen Schritte durchaus als Emanzipation Japans in sicherheitspolitischen Fragen gesehen werden können, beunruhigt aber eine Diskussion besonders stark. Nachdem Nordkorea von den USA verdächtigt wird, eine oder auch schon zwei Atombomben zu besitzen, wird in Tokio die Option Atomwaffen ebenfalls debattiert. Im Lande von Hiroshima und Nagasaki, den beiden Städten, die am Ende des Zweiten Weltkrieges mit der Bombe ausgelöscht wurden, wird die nukleare Aufrüstung erstmals ernsthaft erwogen. Die Reaktionen aus der Volksrepublik China und Südkorea sind verständlicherweise besorgt. Kim Dae Jung erklärte am Montag, dass nur eine atomwaffenfreie koreanische Halbinsel langfristig Japan davon abhalten könne, sich selbst atomar aufzurüsten. Wenn dies nicht gelinge, dann drohe ein zerstörerischer Aufrüstungskampf in der Region.

Noch sind in Japan mehr als drei Viertel der Bevölkerung gegen eine aktive militärische Aufrüstung des Landes. Doch der Widerstand bröckelt, und wenn Nordkorea tatsächlich, wie angedroht, demnächst wieder eine Langstreckenrakete über Japan testen sollte, dann werden die Milliarden für das satellitengestützte Raketenabwehrsystem im nächsten Haushaltsbudget Japans auftauchen. Der Weg zur Bombe ist danach sehr kurz.

ANDRÉ KUNZ