Die Stimme des Martyriums

Zwischen Maria Callas und Billie Holiday: Als „Hohepriesterin des Soul“ erfüllte Nina Simone alle Definitionen einer Diva, schwankte ihr Leben doch stets zwischen öffentlicher Bewunderung und privater Tragödie. Eine Würdigung zum Siebzigsten

Auf Demonstrationen kam sie ihrem Ideal des Konzerts als Predigt am nächsten

von UH-YOUNG KIM

Auf einem Pressefoto aus dem Jahre 1955 ist Maria Callas zu sehen, wie sie außer sich vor Zorn den US-Marshall Stanley Pringle anschreit, der sich schleunigst davonmacht. Es ist eine der berühmtesten der zahlreichen Aufnahmen der Callas, die sie zum Archetyp der Diva im 20. Jahrhundert gemacht haben. Das Divenhafte wurde fortan nicht mehr allein mit dem göttlichen Charisma weiblicher Stars in Verbindung gebracht, sondern ist auch als Synonym für die Exzentrik der „keifenden Furie“ in die Alltagssprache gesickert. Dabei hatte Callas allen Grund für ihren Wutausbruch, hatte Pringle ihr doch nur Minuten nach ihrer Vorstellung als Madame Butterfly in Chicago die Honorarklage ihres ehemaligen Managers ins Kostüm gesteckt.

Von Nina Simone existieren nicht annähernd so viele Bilder im kollektiven Gedächtnis. Wenn überhaupt, dann herrscht von ihr das Bild einer Frau vor, die selten lächelt. Mit einem Ausdruck von Verletzlichkeit und Widerstand entgegnet sie ernst und selbstbewusst den Blick der Welt. Die Öffentlichkeit ist für Nina Simone nie Anlass dafür gewesen, die Glückselige zu mimen. Stattdessen zeigte sie dem Publikum Zähne, falls ihr dieses nicht genügend Respekt entgegengebrachte – und der Musikindustrie bis heute die Faust, um einzuklagen, was ihr zusteht. Als Simone 1997 in einem Interview mit dem Magazin Details auf den ewigen Vergleich zwischen ihr und der anderen „legendären Jazz-Sängerin“ Billie Holiday angesprochen wurde, empfand sie dies als Beleidigung: „Billie war eine Drogenabhängige. Sie vergleichen mich nur mit ihr, weil wir beide schwarz sind. Niemand hat mich je mit Maria Callas verglichen – dabei bin ich mehr eine Diva wie die Callas als irgendwer sonst.“

Was sich wie die überzogene Forderung nach Anerkennung einer selbstgerechten Sängerin liest, trifft im Kern das, was die – heute 70 gewordene – Nina Simone als Diva auszeichnet: Ihr Kampf nicht nur als Frau im männlich dominierten Produktionssystem, sondern auch als Schwarze in einer rassistischen Umwelt, der innere und äußere Druck, weder als Künstlerin noch als Person zu scheitern, und ihr professioneller Anspruch, für den sie über Leichen geht.

Während es inzwischen ausreicht, als weiblicher Star wegen Haschischbesitzes oder häufiger Kopfschmerzen Schlagzeilen zu machen, um im Simulationskabinett der beliebigen Pseudoereignisse das Gütesiegel „Diva“ aufgedrückt zu bekommen, entstammt Nina Simone noch einer Zeit, in der sie sich ebenso erst zu einer solchen machen musste, wie sie später von ihren Fans, ihren Managern und der Bürgerrechtsbewegung zur mythischen „Hohen Priesterin des Soul“ erkoren und später als von Selbstmitleid und Hochmut zerstörtes Nervenbündel wieder fallen gelassen wurde.

Wie Elisabeth Bronfen und Barbara Strautmann in ihrer kulturwissenschaftlichen Studie „Die Diva“ analysieren, ist das Phänomen der Märtyrerin unter den Celebrities ein Unfall im Mythensystem der Stars. Zwischen der medial inszenierten Erlösungs- und Identifikationsfigur und der leiblichen und geistigen Fragilität der authentischen Persönlichkeit bewegt sie sich im kollektiven Bewusstsein als Trägerin von widersprüchlichen Zeichen – eine Grenzgängerin zwischen Himmel und Hölle, göttlicher Bewunderung und persönlicher Tragödie.

Nina Simones Karriere begann mit einer Diskriminierung, aus deren Erfahrung die treibende Kraft ihres Lebens wurde. Ursprünglich wollte die am 21. Februar 1933 als siebte Tochter einer neunköpfigen Familie in der Stadt Tryon in den US-Südstaaten geborene Eunice Waymon die erste schwarze klassische Konzertpianistin der Welt werden. In ihrer Autobiografie „I Put A Spell On You“ von 1991 konstruiert Simone die Legende der gleichsam außerordentlich Begabten wie Missverstandenen: Mit zweieinhalb Jahren spielte sie die Lieblingskirchenhymne ihrer Mutter am Klavier nach, mit fünf liebte sie Bach, und mit sechs wurde sie offizielle Pianistin der Gemeinde. Auf ein Stipendium an der Juilliard School of Music in New York aber folgte die Ernüchterung: Das renommierte Curtis Institute of Music in Philadelphia lehnte sie ab. Erstmals spürte das wohl behütete und geförderte Wunderkind damit die Demütigungen des Rassismus der frühen Fünfzigerjahre in den USA. Der Zugang zur „weißen“ Welt der Klassik war ihr verwehrt worden.

Statt als Konzertpianistin in der New Yorker Carnegie Hall zu glänzen, landete Eunice Waymon aus Geldnot als dienstleistende Musikerin in einer verrauchten Bar in Atlanta. Sich der strengen christlichen Aufsicht ihrer Mutter entziehend, nannte sie sich fortan Nina Simone, zusammen gesetzt aus ihrem Spitznamen und dem Vornamen der französischen Schauspielerin Simone Signoret. Um sich nicht gänzlich unterfordert zu fühlen, kombinierte sie Pop- und Jazz-Standards mit Elementen aus Klassik, Folk-Musik und Gospels. Diese Genre-Fusion, die später auch afrikanische Chants, französische Chansons und Reggae umfassen sollte, perfektionierte Nina Simone schon damals am Klavier zu ihrem unverkennbaren Stil. Doch als ihr der Barbesitzer sagte, sie müsse singen oder könne gehen, wurde aus der introvertierten Pianistin Eunice Waymon die autoritäre Bühnenfigur Nina Simone geboren. Ihr Schritt zum Gesang verlieh ihr eine Stimme, um Unabhängigkeit über ihr Leben und Macht über ihr Schaffen zu gewinnen.

In der androgynen und Leid transformierenden Spannung ihrer Stimme liegt das Unnachahmbare von Simones dem Irdischem entrückt scheinender Aura. Als Interpretin etwa von „Here Comes The Sun“ der Beatles konnte Nina Simone eine leuchtendrote Supernova aufsteigen lassen – aber auch umgekehrt bedienten sich andere an ihrem Repertoire, wie etwa die Animals an dem von ihr komponierten „Don’t Let Me Be Misunderstood“.

Ironischerweise war es ein durch Billie Holiday populär gewordener Titel der Gershwin-Brüder, der zum ersten Hit von Nina Simone wurde. Sie interpretierte die prämoderne idyllische Atmosphäre von „I Loves You, Porgy“ um, indem sie Bess als dynamischer, von der Komplexität ihrer Gefühle zerrissener Frau ein Leben in der modernen Welt gab.

Mit dem Erfolg ihres als „Little Girl Blue“ bekannten Debütalbums von 1958 stieg Nina Simone schlagartig zum Nachtclub-Star im New Yorker East Village auf. Hier setzte sie sich mit der Anmut einer klassischen Darbietung in Szene: „Ich trat wie eine ägyptische Königin auf die Bühne“, erinnert sie in ihrer Autobiografie. Abseits dessen aber erschöpften sie prügelnde Ehemänner, Alkohol und die Mühlen des Showgeschäfts.

Erst als sie in den Sechzigerjahren in der Bürgerrechtsbewegung aktiv wurde, überwand es Nina Simone, als Cocktail-Jazz-Sängerin kategorisiert und in den Clubs nicht genügend gewürdigt zu werden: „Meine Musik war dem Kampf um Freiheit und dem historischen Schicksal meines Volkes gewidmet.“

Sowie sie als Sängerin der Protestbewegung einen neuen Sinn für ihre Kunst fand, nutzten die führenden Denker der Bewegung die Diva und deren Strahlkraft als Symbolfigur gegen die Diskriminierung der Schwarzen in den USA. Während Nina Simone viele ihrer Auftritte als Kampf gegen das Publikum empfand, kam sie auf den Benefizveranstaltungen und Demonstrationen der Bürgerrechtsbewegung Mitte bis Ende der Sechziger ihrem spirituellen Ideal des Konzerts als Predigt am nächsten. Sie fühlte sich wie die Reinkarnation von Nefertiti, die als Priesterin ihre Gemeinde in hypnotischen Bann und aus dem Elend zog. Aus dieser Phase stammen ihre politischen Songs wie „Mississippi Godamm“, als Reaktion auf das rassistisch motivierte Bombenattentat auf eine Kirche in Birmingham 1963 und die Ermordung des Bürgerrechtlers Medgar Evers, „Young Gifted & Black“, die utopische Nationalhymne des schwarzen Amerikas, sowie „Why? (The King Of Love Is Dead)“, das aus der Trauer um den erschossenen Martin Luther King jr. entstand. Nina Simone wurde damit zur Stimme der Revolution. Es ist wahrscheinlich die bleibendste Rolle ihrer Karriere, für deren Wirkung sie noch heute zitiert wird, von Rap-Größen wie Lauryn Hill bis zum afrozentristischen MC Talib Kweli.

Als sie in den Siebzigern feststellte, dass „man die schwarze Revolution durch Discos ersetzt hatte“, zog ihr das den vermeintlich festen Boden unter ihren Füßen weg. Die Diva befand sich wieder im Schwebezustand zwischen dem Stellungskampf um ihre Karriere und den Bedürfnissen ihres privaten Glücks.

Aus der Erfahrung der Diskriminierung erwuchs die treibende Kraft ihres Lebens

Enttäuscht und verraten von „Amerikanern, dem weißen Mann, Männern, Plattenfirmen, Veranstaltern“ und ihrer Familie ging sie ins Exil. Sie kehrte den USA – auch wegen laufender Steuerhinterziehungsverfahren – den Rücken zu und suchte Zuflucht und Trost auf dem Urlaubsparadies Barbados, in den Armen von Strandboys und dem damaligen Premierminister Barrow, bei ihren „spirituellen Wurzeln“ in Liberia und dem Snobismus der High Society – und in der „langweiligen“ Schweiz, wo sie ihre Versäumnisse als Mutter gegenüber ihrer Tochter Lisa wieder gutmachen wollte (diese trat 1987 der US-Army bei).

Der Zenit ihrer Laufbahn aber war überschritten. Trotz eines ihrer schönsten Alben, des vom Reggae inspirierten „Baltimore“ von 1978, wandte sich die Welt von dem gefallenen Star ab, der in die Einsamkeit stürzte. Depressiv, ausgelaugt und verbittert versuchte sie sich in Paris „nach der Vertreibung aus dem Paradies“ das Leben zu nehmen.

Ausgerechnet in der Yuppie-Ära der Mittachtziger gelang Nina Simone jedoch, was sonst allen klassischen Diven vor ihr verwehrt geblieben ist: ein Comeback. Ein britischer TV-Werbespot für ein Chanel-Parfüm brachte Nina Simones Version des Sinatra-Hits „My Baby Just Cares For Me“ wieder in die Hitlisten und in die Capuccino-Häuser, und so konnte die tragische Heldin im späten Alter noch ihren größten Charts-Erfolg feiern. Die zurückgelehnte Eleganz dieses Songs aus einer verklärten Ära bediente erneut die zeitlosen Sehnsucht nach der fingerschnippend coolen Liebe.

Doch der alte Hit, den sie nach tumultartigen Publikumswünschen auf einem Konzert in Brixton in einem furiosen Abgang schon mal als „ein Stück Scheiße“ verdammte, stieß in eine alte Wunde. Er hatte sich bereits auf ihrem Debütalbum befunden und damit rechtlich in den Händen ihrer Plattenfirma: Mit einer unüberlegten Unterschrift hatte sie dieser damals, zu Beginn ihrer Karriere, für lächerliche 3.000 Dollar sämtliche Verwertungsrechte übertragen. Auch diesmal ging Simone leer aus, aber für eine kurze Zeit rückte sie wieder in das öffentliche Bewusstsein – auch wenn im dazugehörigen Video eine Knetgummi-Katze den Song vortrug.

Vor sieben Jahren geriet Nina Simone dann noch einmal in die Schlagzeilen, als sie lärmende Nachbarskinder mit der Schrotflinte anschoss und damit ihrem exzentrischen Ruf gerecht wurde. Den Trip in die USA, das Land ihrer bittersten Enttäuschungen, macht die in Südfrankreich Lebende nur noch selten. Schon als junges, abgewiesenes Talent stellt Nina Simone in ihrer Autobiografie fest, sei es die Musik gewesen, die sie einsam gemacht habe. Als der Erfolg, das Geld und der Respekt kamen, fragte sie sich, warum sie eigentlich nicht glücklich sei, und suchte Halt in der Gemeinschaft des Protests. Ihr Martyrium als Diva reflektierend, weiß sie heute, „dass ich gern schwarz und eine Frau bin – aber dass es genau meine Farbe und mein Geschlecht waren, die mich in erster Linie kaputtgemacht haben.“