Reise nach Germanistan

aus Nürnberg THOMAS GERLACH

Der junge Herr Fischer ist ein fescher Typ: Lockiges Haar, Siegelring und randlose Brille, und die fränkische Zunge rollt wie bei Lothar Matthäus. Der junge Herr Fischer ist ein Aufsteiger. Bald habe er 80 Leute unter sich, raunt der alte Herr Fischer, der noch gar nicht so alt ist und der bei der Landsmannschaft der Russlanddeutschen arbeitet.

Die beiden sind nicht verwandt, sie sitzen im „Haus der Heimat“ in Nürnberg beisammen, und der alte Herr Fischer singt Elogen auf den jungen, als müsste er seinem Sohn eine Anstellung verschaffen: So einer zahle einen Batzen in die Rentenkasse, so einer brauche sich nicht zu verstecken, in der Landsmannschaft der Russlanddeutschen sei er aktiv, und nebenbei unterrichte er Tänze. Und doch hat der junge Herr Fischer in Nürnberg das Lügen gelernt. Als der junge Fischer anhebt, schweigen sie alle und kneten die Hände. „Ich habe in der Schule oft gesagt, mein Vater sei für zwei, drei Jahre auf Montage in Kasachstan gewesen, und deswegen sei ich dort geboren.“ Dann haben ihn die Mitschüler akzeptiert. Klar, im Ausland waren viele Väter. „Und wenn dann die Wahrheit herauskommt, heißt es: Die Russlanddeutschen lügen!“, platzt es aus dem alten Fischer heraus. Nicken am Tisch. Das Ehepaar Walter, das aus Moldawien kam, nickt, Alexander Meier, ein Deutscher von der Krim, nickt, und der junge Herr Fischer nickt auch.

Der alte Fischer spricht ein melodisches Deutsch, wie Gesang. Das haben sie aus Württemberg und Preußen und wo sie sonst herkamen, in das Zarenreich mitgenommen – als Aussiedler. 1941 deportierte Stalin Sprache und Menschen nach Zentralasien, und nun sind sie zurück – als Aussiedler. Ein Volk auf großer Fahrt – immer ins Gelobte Land. Und immer im Kreis. Die deutschen Behörden haben dem jungen Fischer und den Seinen eine neue Heimat in Nürnberg zugeteilt, in Westdeutschland. Dort, wo sich eine Menge Aussiedler hinwünschen, die in Ostdeutschland gelandet sind. Osten bedeutet da Niedriglöhne und Neonazis, Westen bedeutet Glück. Ist das so?

Dutzende Klöße im Hals

„Die Jungen kommen und fragen: Wir sind Deutsche, und keiner glaubt uns! Wie sollen wir uns wehren?“, sagt der alte Fischer. „Sollen sie sich prügeln wie in Kasachstan? Da kommen hierzulande gleich die Eltern. Oder gar die Polizei.“ Wie man als Deutscher in Kasachstan lebt, wussten sie. Niemand wäre auf die Idee gekommen, die Miliz zu rufen. Bundesbürger rufen fix die Polizei. „Wenn sie dann kommt, heißt es, die Russen sind schuld!“

Als läge auf dem Volk ein Bann. „Woher sollen sie Deutsch können, wenn es seit 1941 keine einzige deutsche Schule mehr gab? Wenn es massenweise zu Familientrennungen kam?“ Jetzt hat der alte Jakob Fischer dutzende Klöße im Hals, über seinem linken Auge zittert das Lid. Er schweigt. Alexander Meier sagt: „Und jetzt sollen sie lebendiges deutsches Volkstum nachweisen?“ Der Meier ist ein Erdmensch, der hat Hände wie Wurzeln. So einer braucht sie nur in den Acker zu stecken, schon ziehen sie Kräfte, die hier keiner kennt. „In der deutschen Botschaft müssen sie einen Sprachtest absolvieren. Aber wehe sie sprechen Hochdeutsch! Dialekte sollen sie sprechen!“

Meier könnt ein guter Bürgermeister sein. „Und gute Kinder – alles Einsen – werden in die Hauptschule gesteckt. Das ist doch nicht normal? Die könnten doch gute Leut’ gebe!“ Fleiß zählt nicht mehr, und darauf war man in der Fremde so stolz. So sind sie Älteste ohne Rat, ohne Dorf und ohne Heimat – im „Haus der Heimat“, dem Zentrum der Landsmannschaften in Nürnberg. Was für ein schmuckes Heim: Am Eingang Pflastersteinchen akkurat wie Mosaiken, links und rechts wächst Rasen, und ein Lämpchen für die Füße – deutsche Erde, Mutterland. „Man hat uns damals ganz anders empfangen …“, sagt Dorothea Walter. 23 Jahre ist das her. „Heute würden wir nicht mehr kommen.“ Betrogne reden so, manchmal.

„Heimat? Das ist drüben, in Kasachstan.“ Am anderen Ende von Nürnberg steht Alexej in einer Bude. Er ist 19, seit vier Jahren in Deutschland, und die Musik, die hier peitscht, würde dem alten Herrn Fischer, dem robusten Alexander Meier und dem Ehepaar Walter den Garaus machen. Aber die Landsmannschaft kommt nicht in das Kinder- und Jugendhaus „Bertha“, sie weiß nichts von dieser fast privaten Disco ihrer Landsleute, die kaum jünger sind als der fesche Herr Fischer – und so ganz anders. Sie sprechen Deutsch mit russischem Akzent – Notlüge zwecklos –, sie brüllen einander auf Russisch an, während drei DJs Musik auflegen. Alexej verkauft Flaschenbier, schäkert mit allen. Ob sich für ihn in Deutschland alles erfüllt habe? „Na ja, nicht ganz.“ Alexej, rundes Gesicht und Stoppelhaare, feixt. „Deutschland ist langweilig. Na ja, nicht langweilig. Hier ist viel verboten.“ Und er zählt auf: Irgendwo Zelten? Verboten. Lagerfeuer? Verboten. Angeln? Du brauchst einen Schein. Für einen Hund musst du Steuern zahlen. Und Trinken auf der Straße ist in Nürnberg auch verboten. „Warum willst du das wissen? Bist du ein Bulle?“ – „Alexej!!!“, brüllt jetzt Nastja. Sie ist groß, schlank, laut und am besoffensten. Die Disco findet höchstens zwei-, dreimal im Jahr statt. Alexej und die anderen sind zu alt für die „Bertha“. Der Leiter des Hauses macht diese Ausnahmen für die Burschen, die sonst vor seiner Tür rumlungern. Er lässt sie eigentlich nicht rein, da sie gelegentlich Jüngere schikanieren und weil sie Bier und Härteres trinken.

Von einem erschlagenen Landsmann in Wittstock in Ostdeutschland habe er nichts gehört, sagt Alexej. Von einem Prozess auch nichts. Er lese keine Zeitung. Themenwechsel. Jetzt ist er seit vier Jahren Deutscher unter Deutschen und weiterhin kasachischer Staatsbürger, Alexej besitzt noch den kasachischen Pass. Kasachstan nimmt für die Entlassung aus der Staatsbürgerschaft Geld, und Alexej hat keins. Das eine Land gibt ihn nicht ganz frei, das andere nimmt ihn nicht ganz auf. Alexej lebt irgendwo dazwischen, in Germanistan, wie die Kasachen das ferne, reiche Land in Europa nennen. Geht doch in euer Germanistan zurück!, rufen sie den Deutschen zu, die Stalin ihnen als „faschistische Spione und Diversanten“ herangekarrt hat. Danach machen sie Feuer, angeln, zelten und trinken, wo es ihnen passt, und ihre Hunde kläffen und kacken, dass es eine Freude ist – ganz ohne Hundesteuer und Angelschein.Deutschland ist nicht Kasachstan, und Germanistan noch nicht Deuschland. Alexej trägt sein Muttervaterland im Kopf, dort spricht, denkt und flucht er auf Russisch, dort gibt es keine Landsmannschaft, sondern Kumpels. Und die bayrische Polizei fährt Streife. Das geht nicht gut. Alexej hat 40 Mark gezahlt – Trinken in der Öffentlichkeit. Ausgerechnet in Bayern, der Heimat der Biere. In Kasachstan glaubt das kein Mensch!

Die Musik dröhnt. „Ruki vverch“, Russlands bedeutendste Boy-Group. „Wo wir uns sonst treffen?“ Alexejs Stirn legt sich in Falten. „In Kneipen jedenfalls nicht. In der einen gibt’s Ärger mit Türken, in der nächsten mit den Deutschen.“ Spätestens wenn sie russische Musik hören wollen. Wer kennt in Nürnberg schon „Ruki vverch“? Deren Lied ist aus, die ersten haben Schlagseite, Jeans und Jogginghosen rutschen. „Wir treffen uns meist im Park“, sagt Alexej, will noch was sagen, doch der DJ kommt, lässt sich fallen und stöhnt: „Ich mach das nicht noch mal! Weiß gar nicht, was ich spielen soll: Techno, HipHop oder russische Musik? Jeder will was anderes.“ Weder hier noch dort, irgendwo dazwischen. In Germanistan.

Dreißig-Quadratmeter-Land

Es gibt einen Ort, ein Hügelchen, in Nürnberg, wo auch Fremde Germanistan betreten können: Ein überdachtes Dreißig-Quadratmeter-Land. Dort wo eine Schnellstraße wie ein Hohlweg den Westpark zerteilt, stehen oberhalb eine Bank, zwei Dächer, vier Papierkörbe – Unterstände, wie man sie für Autos baut oder Fahrräder, manchmal für Müllcontainer. Jutta Zier und Manfred Hahn haben die Dächer im Rathaus durchgesetzt. Die Streetworker der Arbeiterwohlfahrt sind für die Russlanddeutschen da. Sie sprechen kein Russisch und verstehen die Jungs trotzdem. „Man wird ausgegrenzt und grenzt sich ab – ist doch ganz klar“, sagt Manfred Hahn, „dabei müssten sie sich mit den einheimischen Jugendlichen gut verstehen. Alle haben die gleichen Probleme: Schule, Lehre, Freundin, Eltern.“

Michail ist 18 und vor vier Jahren aus Kiew gekommen. Im Altersheim arbeitet er gemeinsam mit Polen, Juden und Russen. Deutsche gibt’s dort nur im Büro. „Die Deutschen leben in einer anderen Welt!“ In welcher? „Schwer zu sagen …,“ er dreht an einer Colaflasche. „Sie gehen ins Sonnenstudio – wir treffen uns auf der Straße, vor der U-Bahn, im Park.“ Bei Manfred Hahn klingelt das Telefon. Einer der Jungs bracht einen Anwalt. Was ist los? Stress mit der Polizei.

Dieses luftige „Haus der Heimat“ hat kein Wände, die hat das Grünflächenamt wieder abgebaut. Passanten sollen sich beschwert haben, dass man nicht sehen könne, was die „Russen“ dahinter so treiben. Dabei stehen sie nur beisammen wie in einem Wartehäuschen. Als ob gleich ein Bus kommt, der sie zu guter Letzt von Germanistan nach Deutschland bringt. Dort steigen sie aus, und einer sagt „Schön, dass ihr hier seid!“ Eine Schnapsidee! Es kommt kein Bus, und es wird keiner kommen. Aber sie können hier sehr gut warten. Die 30 Quadratmeter sind solide gepflastert, deutsche Wertarbeit und dick wie ein Untersetzer. Als ob hier der Boden noch viel zu heiß für sie wäre.