Wissen, was ein Vater ist

Was bleibt vom Vater-Sohn-Konflikt? Die Ausstellung „Die Gesetze des Vaters“ in Graz zeigt Otto Gross, den Anarchisten, Kokser und frühen Psychoanalytiker, in Beziehung zu seinem Vater, dem Kriminalisten Hans Gross, zu Sigmund Freud und Franz Kafka

von GUILLAUME PAOLI

Sein Leben liefert den Stoff, aus dem filmreife Skandaldramen geschrieben werden. Der Mann träumte davon, ganz Wien in die Luft zu sprengen. Er propagierte die sexuelle Revolution zwei Jahrzehnte vor und radikaler als Wilhelm Reich. Keinen Tag konnte er ohne Opium und Kokain überstehen. Mit seinen anarchistischen Auffassungen konfrontiert erwiesen sich selbst hartgesottene Revolutionäre wie Gustav Landauer als konservative Spießer. Er half zweien seiner lebensmüden Patientinnen, sich umzubringen. Er ließ Sigmund Freud bereuen, die Psychoanalyse jemals erfunden zu haben, als er sich gelobte, deren subversives Potenzial für die völlige Zerstörung der bürgerlichen Verhältnisse einzusetzen. Über Franz Jung und Raoul Hausmann trug er erheblich zur radikalen Zuspitzung der Dada-Bewegung bei. Und wie ein echter Rock-Held war er nicht einmal 43, als er schließlich in einem Berliner Hauseingang starb: verhungert und erfroren.

Der Multidissident

Zurzeit widmet die letztjährige Kulturhauptstadt Europas, Graz, ihrem Enfant terrible Otto Gross sowie drei illustren Protagonisten seiner bewegten Existenz eine Ausstellung. Zugleich haben die beiden Kuratoren Gerhard Dienes und Ralf Rother ein spannendes Begleitbuch herausgegeben (wobei richtiger wäre, hier von der Begleitausstellung zum Buch zu reden). Mittlerweile sind das Leben und Werk des Multidissidenten zwar ausführlich erforscht worden (Ende Oktober tagte gar zum vierten Mal, ebenso in Graz, ein „Internationaler Otto Gross Kongress“), aber, und darin liegt die Originalität des Konzepts: Präsentiert wird hier kein Aufriss paralleler Biografien, sondern die minutiöse Aufstellung eines spannungsgeladenen Beziehungsgeflechts. Nicht die Individuen stehen im Mittelpunkt, sondern ihr Verhältnis zueinander – dies übrigens ganz im Sinne der Gross’schen Theorie, die sich um die Beziehung und den „Konflikt des Eigenen und Fremde“ drehte.

Der Hauptfaden im dargestellten Komplex verbindet Otto Gross mit seinem Vater. Im Gegensatz zum Sohn ist die Figur des Hans Gross heute in Vergessenheit geraten, wobei sein Schaffen (leider) nachhaltigere Spuren hinterlassen hat. Er gilt als Begründer der wissenschaftlichen Verbrechensbekämpfung, und viele der von ihm entworfenen Prozeduren werden heute noch in den Polizeidienststellen der Welt ganz selbstverständlich angewandt. Sein Handbuch für Untersuchungsrichter, das ihn damals weltberühmt machte, umfasst sämtliche Bereiche des Faches, von der Auswertung von Fußabdrücken bis zur Dekodierung von Einbrecherzinken, um sie in eine einheitliche Disziplin einfließen zu lassen. Bezeichnenderweise wurde Gross damals in den USA als „Sherlock Holmes’ lebendiges Gegenstück“ verehrt.

Der finstere Kriminalist

Es war die Psychologie, die in seiner Methode die zentrale Rolle spielte. Gross war sich sicher, fehlerfrei Gelegenheitsdelinquenten von unverbesserlichen „Degenerierten“ unterscheiden zu können. Zu jener Gruppe zählten seiner Auffassung nach nicht nur Gewohnheitsverbrecher, sondern auch Arbeitsscheue, sexuell Perverse, „politisch Malkontente“ und alle Zigeuner sowieso. In einer für die Zeit typischen Mischung aus Wissenschaftswahn und Protofaschismus kündigte der finstere Kriminalist die Ankunft des „idealen“ Richters an, welcher „ohne störende Einschränkung des Gesetzes“ die Degenerierten, noch ehe sie sich straffällig machten, aus dem Verkehr ziehen würde. Zu diesem Zweck empfahl er die lebenslängliche Deportation in entfernte Lager. Im Ausstellungskatalog zeigt Helmut Samer, wie sehr solche Vernichtungsträume dem Zeitgeist der ausgehenden k. u. k. Monarchie entsprachen, und Giorgio Agamben interpretiert sie als Geburt der Biopolitik.

Otto begann seine Laufbahn als getreuer Sohn seines Vaters. Er promovierte als Nervenarzt und veröffentlichte seine ersten Aufsätze in dem von Hans Gross herausgegebenen Archiv für kriminalanthropologische Kriminalistik. Doch bald wendete er sich in seinen Schriften gegen die Unmenschlichkeit des Strafrechtes und entfloh als Schiffsarzt der akademischen Karriere. Von diesem Zeitpunkt an entwickelte er sich Stück für Stück in das genaue Gegenbild des Vaters. Gegen seinen bürgerlichen Ursprung wurde er zu einem berüchtigten Bohemien. Gegen die Autorität des Gesetzes verband er sich mit politischen Anarchisten. Wider die sexuelle Normierung warb er für hemmungsbefreiende Promiskuität. Die „Zertrümmerung der Vaterrechtfamilie“ herbeisehnend, entwarf er eine Utopie des Matriarchats. In seinem 1909 erschienenen Buch „Über psychopathische Minderwertigkeiten“ konterkarierte er explizit die Thesen des Hans Gross und lobte die „Degenerierten“ als Boten der künftigen Welt.

Sicherlich können diese Ansichten erst im Kontext der Auseinandersetzung mit dem Vater verstanden werden. Faszinierend bei Otto Gross ist aber gerade die vollkommene Vermischung der intellektuellen mit der biografischen Ebene. Den familiären Konflikt übertrug er in die Theorie. Man könnte sein Schaffen als eine methodische Dekonstruktion der Vaterwelt charakterisieren. Und parallel dazu setzte der Vater seine Theorie in die Tat um. Da der Stammhalter sich als Degenerierter erwiesen hatte, sollte er als solcher behandelt werden. Das Drama kulminierte 1913, als Hans Gross seinen Sohn aus Berlin entführen und in verschiedene Heilanstalten einsperren ließ. Der Fall des durch eine internationale Freilassungskampagne berühmt Gewordenen wurde zum Symbol für den Kampf der Moderne gegen eine Welt, die, ohne es zu wissen, an der Schwelle der Auflösung stand. Wenige Monate nach der Freilassung des Sohnes starb Gross der Ältere verbittert und vereinsamt. Seinerseits verfiel Gross der Jüngere allmählich der Selbstvernichtung, vielleicht, weil ihm nun das väterliche Feindbild entzogen war.

Über das Vater-Sohn-Verhältnis hinaus verbindet ein Beziehungsdreieck die beiden mit Freud. Nicht zufällig schenkte der Vater der Kriminalistik dem der Psychoanalyse große Aufmerksamkeit, die zeitweilig auf Gegeninteresse stieß. Schließlich ging es in beiden Fällen um eine wissenschaftliche Methode zur logisch-induktiven Erfassung des menschlichen Charakters. Der Richter ist ebenso auf das Verständnis unbewusster Prozesse angewiesen wie der Analytiker auf die Interpretation von Indizien. (Man erinnere sich an die köstliche Begegnung des kokainsüchtigen Sherlock Holmes mit Freud in Herbert Ross’ Film „The seven per cent solution“). Doch letztendlich verwarf Freud die Tatbestandsdiagnosen des Grazer Polizeiwissenschaftlers. Das Reformprogramm „Wo Es war, soll Ich werden“ war mit der Zwangsbeseitigung sozialkultureller Gegensätze nicht zu vereinbaren.

Ödipaler Konflikt

Otto Gross dagegen machte sich die Theorie des ödipalen Konflikts komplett zu Eigen. Er erwies sich als begabter, angesehener Jünger in der aufkommenden psychoanalytischen Zunft. Bald aber zog er aus dem von Freud festgestellten Zusammenhang zwischen Gesellschaftsstruktur und psychischem Leiden radikale Folgerungen. Die analytische Tätigkeit verstand er als „Vorarbeit der Revolution“. Es ginge darum, die Gesetze des Vaters zu brechen, die selbst die Revolutionäre in sich tragen. Da wies ihn der erschreckte Freud zurecht: „Wir sind Ärzte und wollen Ärzte bleiben.“ Enttäuscht diagnostizierte Otto Gross eine „Verdrängung letzter revolutionärer Konsequenzen“ in dem Meister selbst. Wieder stellte sich ein Übervater quer, wenn auch ein geistiger.

Ein weiterer Charakter im dargestellten Beziehungsstoff ist Franz Kafka. Die Tatsache, dass dieser drei Semester bei Hans Gross Strafrecht und Rechtsphilosophie studierte, blieb sicherlich nicht ohne Wirkung auf sein späteres Werk. Die Erzählung „In der Strafkolonie“ scheint eine Abbildung der Deportationsfantasien des ehemaligen Lehrers zu sein. Ebenso erinnern im „Prozeß“-Roman sowohl der allmächtige Untersuchungsrichter als auch die Vernehmung des ohnehin für schuldig gehaltenen Joseph K. an den Kriminalisten. Nur wenige Monate bevor Kafka anfing, den „Prozeß“ zu schreiben, fand die Entführung des Otto Gross von drei anonymen Beamten auf Befehl des Richtervaters statt, ein überaus kafkaesker Fall, der dem Schriftsteller sicherlich bekannt war.

Hinzu kommt, dass Kafkas Verhältnis zum eigenen Erzeuger ebenso gestört war. So schrieb er ihm: „Es ist mir, als kämen für mein Leben nur die Gegenden in Betracht, die Du entweder nicht bedeckst oder die nicht in Deiner Reichweite liegen.“ Es war ein objektiver Zufall, als Kafka 1917 in einem Nachtzug auf den vollgekoksten Otto Gross stieß. Bald empfand er eine „gewissermaßen persönliche Verbundenheit“, Otto führte ihn in die Psychoanalyse ein und beide erwogen, gemeinsam „Blätter gegen den Machtwillen“ herauszugeben. Doch obgleich beide Autoren die Diagnose einer Unterdrückung des Einzelnen durch den bürokratischen Übervater teilten, war Kafka seinerseits zu pessimistisch, um auf eine Erlösung zu hoffen.

Vor seinem Tod durfte Otto Gross durch den Aufbruch des Dadaismus, der Frauenemanzipation und des Spartakusaufstandes die scheinbare Bestätigung seiner Prophezeiungen erleben. In „Die vaterlose Gesellschaft“ (1919) interpretierte der Freudianer Paul Federn die deutsche Revolution als generellen Vertrauensbruch gegenüber der Elternwelt, die ihre Söhne zur Abschlachtung geschickt hatte. Doch es dauerte nicht lange, bis noch schrecklichere Führerfiguren wiederkehrten und somit Freuds kulturpessimistische Annahme stärkten, nach der selbst Vatermörder ein „Bedürfnis nach Autorität“ haben. Jahrzehntelang geriet Otto Gross in Vergessenheit, nicht zuletzt, weil Autoren wie C. G. Jung und Martin Buber sich aus seinem Gedankengut reichlich bedienten, ohne dessen Urheberschaft zu erwähnen. Selbst seine Ideen wurden vaterlos!

Dann kamen die Achtundsechziger, die selbst einen Generationskonflikt zu bewältigen hatten und ihn als Vorläufer wiederentdeckten. Erneut hatten Psychoanalyse, Anarchie und sexuelle Revolution Konjunktur, nur schienen jetzt die Gesetze des Vaters an Strenge verloren zu haben. Vereinnahmung überwog Repression. Die Marktwerdung der Gesellschaft schien sich mit der Beseitigung aller traditionellen Schranken gut zurechtzufinden. Die einst von Otto Gross ersehnte „fortwährende Auflösung und Veränderung“ wurde zum Gebot einer neuen Tyrannei.

Nun scheint der anarchistische Psychoanalytiker museumsreif zu sein, und der Rückblick in die Geburtszeit der Moderne mündet in die perspektivistische Frage: Was bleibt heute von der Vater-Sohn-Problematik übrig? Der hegemoniale Neoliberalismus feiert den „Abschied von Vater Staat“. Die Sexualfrage wird vom feministischen Kodex und einer antipädophilen Hysterie beherrscht. Die Kinder, bevorzugte Zielgruppe der Werbestrategen, erziehen ihre Eltern marktkonform um. Nur subversiv abgestempelte Künstler werden erfolgreich. Die patriarchale Familie wurde längst von Singles und allein erziehenden Müttern abgelöst. Wo in der Gesellschaftsstruktur sind die Gesetze der „neuen Väter“ zu erkennen, jene unglaubwürdigen Wesen, die übertrieben sanftmütig den Buggy vor sich herschieben, ihre Demütigung in Psychotherapien pflegen oder als „Schreibtischväter“ (Wiglaf Droste) die Welt von ihrem „Lebensprojekt-Kind“ wissen lassen?

Das heißt noch lange nicht, dass die von Otto Gross stigmatisierte „innere Zerrissenheit“, wofür „stets nur Wirkungen von außen her“ verantwortlich sind, nachgelassen hätte, ganz im Gegenteil. Aus dem Entschwinden des Vaters ist keine Institution der Brüderlichkeit entstanden. Hans Gross träumte von einem wissenschaftlichen Überwachungs- und Exklusionssystem, das abseits vom Gesetz operieren würde. Allmählich wird diese Fantasie verwirklicht, nur nicht in der patriarchalen Gestalt des Richters, sondern mittels des unpersönlichen Gestells der Technik. Es sind Verfahren wie die Präimplantationsdiagnose, die Degenerierte bereits vor ihrer Geburt ausschließen sollen. Überwacht werden das Verhalten und die Präferenzen des Einzelnen dank der automatischen Verarbeitung seiner in elektronischen Daten gespeicherten Alltagshandlungen. Die Gesetze des Vaters wurden nicht aufgehoben, sie haben sich in den sozialen Körper disseminiert. Die größte Bedrohung liegt, wie Rother zum Schluss des Buches behauptet, „darin, nicht mehr zu wissen, was der Vater sagt, was seine Gesetze besagen, und vor allem darin, nicht mehr zu wissen, was ein Vater ist“. Fast wünschte man sich, dass die respektable Horrorgestalt des autoritären Vaters zurückkehrte. Damit man sie diesmal wirklich erledigen könnte.

Bis 9. Februar, Katalog (Böhlau, Wien 2003) 24,90 Euro