Unser Abschied von der Ohnmacht

Europäern und Deutschen insbesondere steht es gut an, sich für eine Friedenspolitik stark zu machen. Aber können sie sich noch hinter der Leidensgeschichte des Kontinents verstecken? Weder Diktatoren noch Hegemonen lassen sich davon beeindrucken

Die zerstörerische Geschichte des Kontinents sitzt vielen noch in den KnochenEine multilaterale Friedenspolitik kann nicht von Maulhelden exekutiert werden

von UTE FREVERT

Die weltweiten Friedensdemonstrationen vom 15. Februar haben Eindruck gemacht. Mehr Menschen als erwartet sind gegen den drohenden Irakkrieg auf die Straße gegangen. In Paris und Berlin konnte man sich im Prinzip sogar vorstellen, dass Staatspräsident, Kanzler oder Außenminister mitmarschierten; manche Minister taten es ja auch.

Die Demonstranten befanden sich also im Einklang mit ihrer Regierung – eine seltene Harmonie, die zumindest in der bundesrepublikanischen Demonstrationsgeschichte bislang fehlte. Als zu Beginn der 80er-Jahre hunderttausende gegen die Nachrüstung aufmuckten, galt ihr Unmut vornehmlich noch der eigenen sozialdemokratisch geführten Regierung, die das matte Amerika zur Raketenoffensive gedrängt hatte. Auch die großen Aufmärsche gegen Notstandsgesetze und Atomkraft, von den Protestaktionen der Studentenbewegung ganz zu schweigen, hatten sich stets primär oder zumindest sekundär (Vietnam) gegen die einheimische Politik gerichtet.

Dass sich diese vertrauten Fronten jetzt verschoben haben, ist für manchen ein Grund zur Freude, für andere ein Ärgernis. Obwohl die Berliner Demonstranten keinem klassischen Protestmilieu zuzuordnen waren, zogen sie die üblichen Vorwürfe konservativer Politiker und Leitartikler auf sich: Einäugigkeit, Antiamerikanismus, Naivität, Wohlstandspazifismus.

Diese Kritik verkennt zum einen den Unterschied zwischen Straßen- und Regierungspolitik. Botschaften von Demonstrationen müssen enger fokussiert sein als Positionspapiere des Kanzleramts. Auf Schilder und Plakate passen nur Schlagwörter, keine ausgedehnten Disputationen mit abwägendem Einerseits-Andererseits. Trotzdem ist diese Art des politischen Ausdrucks legitim und wichtig und wird aus guten Gründen von der Verfassung geschützt.

Legitim und wichtig sind die Friedensdemonstrationen aber auch aus einer anderen, historischen Perspektive. Europäern und Deutschen insbesondere steht es gut an, sich für eine Friedenspolitik stark zu machen und mit Kriegsdrohungen vorsichtig umzugehen. Die zerstörerische Geschichte dieses Kontinents sitzt vielen Menschen noch immer in den Knochen. Nach zwei großen Kriegen innerhalb von drei Jahrzehnten, nach Millionen von Toten, Zivilisten wie Soldaten, hat sich die Friedenssehnsucht tief in die politische Kultur eingegraben. Wer sie als alteuropäisch oder eurozentristisch verunglimpft, übersieht, wie teuer sie erkauft wurde – und wie lange es gedauert hat, bis sie sich gegen chauvinistische und bellizistische Neigungen durchsetzen konnte.

Im August 1914 feierten große Teile der Bevölkerung begeistert den Ausbruch des Krieges, viele hatten ihn geradezu herbeigesehnt. Gedenksteine aus der Zwischenkriegszeit mobilisierten unter dem Motto „Klagt nicht, kämpft!“ für den nächsten Waffengang. Erst der Zweite Weltkrieg hat die Nation „geläutert“. Aus einer gewaltberauschten Volksgemeinschaft, die fröhlich Fähnchen auf der europäischen Landkarte verpflanzte und die steigenden Verlustzahlen in den eigenen Reihen mit stoischem Trotz quittierte, wurde über Nacht eine Bevölkerung, die dem Krieg unfeierlich abschwor. Aus der totalen moralischen, politischen und militärischen Niederlage erwuchs ein Antikriegssentiment, das bis heute fortwirkt.

Krieg – das war und ist für die nach 1945 Geborenen kein Thema mehr, und die Zeiten waren ihnen gnädig. Zwar setzte die Adenauer-Regierung in den 1950er-Jahren gegen immense innenpolitische Widerstände die Remilitarisierung der Bundesrepublik durch, und die Ulbricht-Regierung zog rasch nach. Doch selbst im kommunistischen Osten musste vorsichtig taktiert werden: Die allgemeine Wehrpflicht konnte hier erst nach dem Mauerbau eingeführt werden. Eine Begeisterung für alles Militärische, wie sie bis 1945 in Deutschland weit verbreitet gewesen war, wollte sich danach nicht mehr einstellen.

Auch die im Westen rasant steigenden Zahlen der Kriegsdienstverweigerer sprachen eine deutliche Sprache. Trotz beherzter Versuche, der Bundeswehr neue Kleider und ein modernes Führungskonzept zu verpassen, blieb das Militär am Rande der Gesellschaft. Kulturelle oder politische Prägekraft wie im Kaiserreich konnte es nicht mehr entfalten.

In der übersichtlichen Konstellation des Kalten Krieges ließ sich mit einer solchen militärkritischen und kriegsverneinenden Haltung komfortabel leben. Ein Krieg in Europa war nicht vorstellbar, solange das atomare Drohpotenzial beider Supermächte pari passu aufgestellt blieb. Zugleich war allen Beteiligten klar, dass die außen- und militärpolitischen Hauptakteure nicht in Paris oder Bonn oder London saßen, sondern in Washington und Moskau. Weltmachtpolitik konnten nach 1945 nur noch die USA und die Sowjetunion betreiben.

Für manche Europäer war dies zunächst schwer zu ertragen. Vor allem die beiden Kolonialmächte Frankreich und Großbritannien, die bis weit ins 20. Jahrhundert hinein den größten Teil Afrikas und Asiens beherrscht hatten, taten sich nicht leicht, den neuen Realitäten ins Gesicht zu sehen.

Westdeutschland und Italien schickten sich rascher in ihre neue Ohnmacht – und definierten sie zu einem aktiven Friedenswillen um. Sie traten gleichsam die Flucht nach vorn an: Wenn du den Krieg nicht führen kannst, bemühe dich um den Frieden. Diese Friedenspolitik richtete sich vor allem auf Westeuropa; das Projekt europäischer Einigung, wie es sich im Windschatten des Kalten Krieges und zweier hochgerüsteter Militärblöcke entwickelte, ist ihr stolzes und vorzeigbares Ergebnis.

Dass Europäer so eifrige Friedensdemonstranten abgeben, hat folglich nur teilweise mit den leidvollen Kriegserfahrungen zu tun, die der Kontinent den Nordamerikanern voraushat. Es hängt auch damit zusammen, dass Kriege hier anders erinnert werden als in den USA: nicht so sehr als Sacrificium ewiger Helden, sondern als Opfer (victima) in einem grausamen menschlichen Zerstörungswerk. Helden fordern zur Nachfolge auf – daran aber war nach 1945 in Europa nicht mehr zu denken. Die Friedensfähigkeit der westeuropäischen Gesellschaften geht deshalb vor allem auf die politisch- militärische Unfähigkeit zurück, weiter Krieg zu führen. Sie war und ist ein Habitus der Ohnmacht.

Diese Ohnmacht hat das westliche Europa fast ein halbes Jahrhundert lang erfolgreich kultiviert. Aus der Not hat es eine Tugend gemacht, die sozial und ökonomisch reiche Früchte getragen hat und moralisch gute Noten bekam. Gerade deshalb fällt es so schwer, sich davon zu verabschieden. Eben dies aber scheint jetzt angesagt – und ist vielleicht der geheime Grund, warum so viele Menschen am 15. Februar in Deutschland und Europa demonstriert haben. Manches spricht dafür, ihr Aufbegehren als retrospektive Bekräftigung einer europäischen Nachkriegskultur zu begreifen, die gar nicht anders konnte, als einer militärisch gestützten Machtpolitik abzuschwören.

Seit den 90er-Jahren jedoch weht ein neuer Wind in der Welt. Das Ende der fast fünfzigjährigen Blockkonfrontation hat auch Europa neue Handlungsspielräume beschert, die es so oder so nutzen kann. Die Ereignisse in Bosnien und im Kosovo haben ihm schmerzlich vor Augen geführt, dass es sich weder hinter seiner Leidensgeschichte noch hinter seinen Ohnmachtsallüren verstecken darf. Der radikale Verzicht auf militärische Gewalt ist angesichts überall aufbrechender gewaltsamer Konflikte und Übergriffe kaum mehr möglich. Jedenfalls hat es erhebliche Kosten, Gewalt wie noch im Kalten Krieg der amerikanischen Supermacht zu überlassen. Wer das nach wie vor tut, begibt sich jeder Chance, Politik nach eigenen, nichtamerikanischen Maßstäben zu betreiben. Anstatt mitzugestalten, degeneriert er zum jammernden Zahlmeister.

Der selbstbezüglich-herrische Politikstil der Bush-Administration führt den Europäern tagtäglich vor Augen, wie wenig Staat mit den alten europäischen Erzählungen und Orientierungen zu machen ist. Will Europa die Politik Washingtons tatsächlich in seinem Sinne beeinflussen, muss es aus dem Schatten seiner Geschichte heraustreten, ohne ihre Lehren zu vergessen. Die Alternativen sind klar: Entweder der alte Kontinent dankt weltpolitisch ab und profiliert sich ausschließlich ökonomisch, oder er bringt seine politischen Interessen zur Geltung, notfalls auch im Widerspruch zu Amerika. Eine aktive, multilaterale, verständigungsorientierte Friedenspolitik, wie sie viele Europäer (und Amerikaner) wünschen, kann unter den Bedingungen der neuen Weltordnung nicht von Maulhelden exekutiert werden. Weder Diktatoren noch Hegemonen lassen sich davon beeindrucken. Auch wer im Weißen Haus gehört werden will, darf nicht mit leeren Händen kommen.

Friedensdemonstrationen füllen diese Hände nur bedingt. Sie sind Ausdruck des berechtigten Zweifels, der Kritik, der Sorge. Aber sie sind kein Ersatz für eine selbstbewusste europäische Politik, die sich realistisch auf die weltpolitischen Veränderungen einstellt. Politiker sollten denn auch nicht demonstrieren, sondern ihren Job tun, welcher ist: die Sorgen der Bevölkerung ernst nehmen und in konstruktive Handlungsentwürfe übersetzen. Ein machtloses „Ohne uns“ greift zu kurz und scheint wenig geeignet, das neue Hegemoniestreben der USA zu bändigen. In der Politik reicht es nicht aus, die Legitimität eines Präventivkrieges zu bezweifeln und auf seine desaströsen Folgen hinzuweisen.

Argumente verfangen in der Regel nur dann, wenn sie machtgestützt auftreten, und Macht hat etwas mit der Chance zu tun, seinen Willen „auch gegen Widerstreben“ durchsetzen zu können (Max Weber). In den internationalen Beziehungen beruht diese Chance, wie sich auch jetzt wieder zeigt, letztlich auf der Verfügung über Gewaltmittel und auf der Bereitschaft, sie einzusetzen. Will man auf diese Bereitschaft Einfluss gewinnen, bedarf es mehr als guter Worte.

Auch Ressentiment hilft nicht weiter, sondern trübt den klaren Blick. Und es verhindert die notwendige Einsicht, dass die Zeiten, in der Ohnmacht als Tugend ausgegeben werden konnte (und musste), unwiederbringlich dahin sind.