Visionär und Patriarch

Rainer Hildebrandt ist tot. Dass der Gründer des Mauermuseums am Checkpoint Charlie sein Lebenswerk nicht vollenden konnte, lag an der Berliner Politik – und an ihm selbst. Ein Nachruf

VON WOLFGANG TEMPLIN

In den Monaten der Berlin-Blockade 1948/49, als Ernst Reuter den Widerstandsgeist der frierenden und hungernden Westberliner beschwor und die Bilder der Alliierten-Luftbrücke um die Welt gingen, prägte sich noch eine andere Stimme ein. Auf der Waldbühne und an anderen Versammlungsorten rüttelte der Gründer der „Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit“, Rainer Hildebrandt, zehntausende auf, der Tyrannei in jedweder Gestalt die Stirn zu bieten. Das Pathos und die Wucht der Ansprache wurzelten unter anderem in seiner Biografie.

Im Dezember 1914, in den Ersten Weltkrieg hineingeboren, hatte der aus einer Künstlerfamilie stammende Schwabe Hildebrandt das Hitler-Regime und die deutsche Verbrechenslast miterlebt. Ihn prägten die wilden 20er-Jahre in Berlin, der libertäre Freundeskreis seiner jüdischen Mutter und die Studienzeit an der Berliner Universität. Kontakte zum Widerstand brachten ihm die Inhaftierung wegen Wehrkraftzersetzung ein. Mit diesen Erfahrungen verfolgte er nach 1945 das Aufkommen einer Diktatur unter kommunistischem Vorzeichen im Osten Deutschlands. Hatte ziviler, gewaltloser Widerstand in den Frontstellungen des Kalten Krieges eine Chance, und wie musste er aussehen? Rainer Hildebrandts Lebensfrage ließ ihn eine eigene Widerstandsorganisation gründen. Er verließ diese Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit in Distanz zur Militanz anderer Grupppenmitglieder.

Seine historische Stunde schlug 1961. Der Widerstand gegen die Monstrosität von Mauer und Stacheldraht äußerte sich in vielfacher Form, Fluchthilfe von politischen Idealisten, Abenteurern, gerissenen Geschäftemachern war ein weit verbreitetes Phänomen. Es war die Genialiät Hildebrandts, Widerstand, Fluchthilfe und Dokumentation des Geschehens zu bündeln und in einzigartiger Weise miteinander zu verknüpfen.

Nach zwei Jahren provisorischen Domizils an der Bernauer Straße zog die Widerstands- und Fluchthelfergruppe „Arbeitsgemeinschaft 13. August“ an den weltbekannten Grenzübergang Checkpoint Charlie. Hier, wo sich die Panzer hautnah gegenüberstanden, Diplomaten und Agenten aus allen Ländern verkehrten, der Flüchtling Peter Fechter verblutete, entstand ein Arbeits-, Dokumentations- und Erinnerungsort, das legendäre „Haus am Checkpoint Charlie“. Rainer Hildebrandt und seine Leute dokumentierten ihre eigene Geschichte und ihre erfolgreichen Aktionen, boten ein Podium für Flüchtlinge, desertierte Grenzsoldaten, östliche Dissidenten und Verfolgte.

Rainer Hildebrandt war über Jahrzehnte die Seele dieses Ortes. Er begriff das geteilte Berlin als Schnittstelle und Fokus des gesamten Kalten Krieges und verstand die Arbeit seiner Gruppe als Teil des weltumspannenden gewaltlosen Widerstands gegen Diktatur und Unrecht. Mochten Besucher des Hauses am Checkpoint Charlie zunächst mit dem Kopf schütteln, was wohl Mahatma Gandhi und Martin Luther King mit der Berliner Mauer und Andrej Sacharow zu tun hätten, irgendwann dämmerte es ihnen. Zu Hildebrandt gehörten die Aura des Orts und sein Chaos. Nur ein anarchisch agierender Mensch und typischer Schütze wie er, ein Abenteurer und Spieler, konnte so etwas zustande bringen. Wenn in den Sechziger- und Siebzigerjahren seinem Museum das Geld ausging, tourte er in Frauenkleidern durch die Ku’damm-Restaurants und sammelte dort mit einem katholischen Klingelbeutel. Er konnte mit den Erben Mahatma Gandhis hinter verschlossenen Türen drei Tage um dessen Holzsandalen, frühe Periode, feilschen und letztendlich das Rennen gegen Mitbewerber machen. Manche Freunde und Mitstreiter drohten oft genug an seinen Eskapaden zu verzweifeln.

Für den Start der taz und ihre Gründergeneration hatte Hildebrandt tiefste Symphatie und schleppte die Neuausgaben der Nachbarn häufig stapelweise zu sich herüber. Zum ordentlichen Kalten Krieger taugte er nun mal nicht. Fremd war es ihm aber ebenso, sich Rechenschaft über die andere Seite des Geschehens an der Nahtstelle der Systeme abzulegen. Als Meister des Verdrängens nahm er die kriminelle Dimension, zwielichtige Geschäftspraktiken und die ungehemmte Präsenz der Geheimdienste in Kauf, die zahlreiche Fluchthelferaktivitäten begleiteten.

Die Öffnung des Eisernen Vorhangs und der Fall der Berliner Mauer 1989, die Überwindung der europäischen und der deutschen Teilung durch eine Kette gewaltloser Revolutionen, hätten zur Krönung von Rainer Hildebrandts Lebenswerk werden können. Er, den alle Lebenserfahrungen staatsskeptisch gemacht hatten, der die osteuropäischen Dissidenten und die Bürgerrechtler von 1989 als seine Verbündeten begreifen wollte, wurde vor die schwierigste der möglichen Fragen gestellt. Wie sollte der Umgang mit seinem und eben nicht nur seinem Vermächtnis aussehen, wer sollte dessen Träger sein? Doch die Berliner öffentliche Verantwortung versagte hier so kläglich wie beim Umgang mit dem Erbe der Berliner Mauer und den anderen Hinterlassenschaften der DDR-Diktatur. Halbherzige Versuche einer Kooperation scheiterten an bürokratischen Hürden und den Egoismen der Beteiligten. Die einzige adäquate Lösung, die Trägerschaft einer internationalen Bürgerinitiative zu übergeben, wurde erst gar nicht in Betracht gezogen.

Visionär, der er immer war, träumte Rainer Hildebrandt von einem Ort der Menschenrechte und des Dialogs. Als Patriarch wurde er dagegen von Verlustängsten zerrissen, suchte Partner und drohte sie in der Umarmung zu ersticken. Der schmale Grat zwischen patriarchalischem Großmut und despotischer Enge, auf dem er immer wandelte, verprellte viele. Aus Hildebrandts ehemaliger Widerstandsgruppe und Fluchthelferorganisation war ein eingetragener Verein geworden, der das Monopol für den Ort und den Umgang mit dem Ort beanspruchte. Unter das Vereinsdach schoben sich mehr und mehr Leute, die zur Kehrseite der großen Westberliner Freiheitsgeschichte gehörten. Politiker wie Klaus Landowsky brachten dort ihre Kofferträger unter, raffgierige Winkeladvokaten begleiteten die Verwandlung der Arbeitsgemeinschaft 13. August in die Zentraleinheit einer Gelddruckmaschine. Sogar die Rolle der berüchtigten schwarzen Witwe durfte in diesem Boulevardstück nicht fehlen.

Auf seine Weise hätte Rainer Hildebrandt selbst darüber lachen können, denn zum Spiel gehören nun einmal auch die schlechten Karten. Seinen letzten Ruheplatz wird er auf dem Friedhof in Moabit haben, wo sein akademischer Lehrer Albrecht Haushofer liegt, den die Nazis noch im April 1945 ermordeten. Ihn und seine Freundinnen und Freunde im Widerstand hatte Rainer Hildebrandt nach dem Krieg in einem eigenen Buch gewürdigt. Wenn der Kalte Krieg eindrucksvolle Persönlichkeiten hervorbrachte, war er selbst eine der letzten davon.

Wolfgang Templin, 55, war DDR-Bürgerrechtler und hat von 1994 bis 1996 im Mauermuseum am Checkpoint Charlie gearbeitet