Darum nach Flandern

Eine von seinem Urgroßvater mit Mohnblüten bemalte Teekanne bewegte unseren Autor, eine Reise nach Flandern zu unternehmen – wo er auf eine geradezu sagenhafte Leere traf

VON ARNO FRANK

Warum nach Flandern? Weniger wegen der flämischen Meister, die vor Jahrhunderten schon bukolische Erntefeste oder heitere Marktszenen dieser Landschaft in idyllisches Öl bannten und dabei auch Details wie das grelle Rot der Klatschmohnblüten neben den hellbraunen Feldwegen aufleuchten ließen. Und auch nicht in erster Linie wegen der grobkörnigen Luftaufnahmen aus dem Ersten Weltkrieg, auf denen die Weiden und Felder des nördlichen Belgiens im zerwühlten und zertrichterten Zustand apokalyptischer Zerstörung zu sehen sind. Der Grund, die Schlachtfelder und Beinhäuser des Westens zu bereisen, war ein simple Teekanne.

Das Geschirr stand hinter Glas im Wohnzimmerschrank meiner Großmutter und stammte noch von ihrem Vater, meinem Urgroßvater, von dem kolportiert wurde, er sei am 22. April 1915 als Melder in Flandern bis zur Brust in einem sumpfigen Granattrichter versunken und habe in dieser ohnehin schon unglücklichen Lage das zusätzliche Pech gehabt, in den ersten erfolgreichen Einsatz chemischer Waffen durch die eigenen Truppen zu geraten, als Chlorgas, schwerer als Luft, an diesem Tag in den französischen Schützengräben 5.000 Menschen erstickte – und meinem Urgroßvater ein toxisches Lungenödem einbrockte, von dem er sich für den Rest seines Lebens nie mehr erholen sollte. Am Ende hatte er, der Porzellanmaler, noch das Teekännchen verziert, das im Schrank meiner Großmutter seinen Ehrenplatz hatte. Darauf leuchtete, neben den üblichen Ornamenten und Arabesken seines Kunsthandwerks, auch ungewöhnlich grell das Rot der Mohnblüte. Die Teekanne war also mehr als nur eine Teekanne, sie war eine Flaschenpost – und erzählte vom unbeholfenen Versuch einer betroffenen Seele, irgendwie die Wunden zu therapieren, die ihr eine der größten Katastrophen in der Geschichte der Menschheit geschlagen hatte. Darum nach Flandern.

Generalfeldmarschall Alfred Graf von Schlieffen mag einen weniger sentimentalen Grund gehabt haben, Flandern näher ins Auge zu fassen. Desgleichen sein Nachfolger Helmuth von Moltke, der den Schlieffen-Plan 1914 leicht modifiziert in die blutige Tat umsetzte. Dem deutschen Generalstab ging es darum, die Eisenbarriere aus wuchtigen Befestigungen zu umgehen, mit der sich Frankreich nach der Niederlage von 1871 an seiner Ostgrenze gegen das kriegerische Reich wappnete. Schlieffen plante, die Niederlande und Belgien kurzerhand als ungedeckte Flanke des „Erbfeindes“ zu betrachten, diese neutralen Staaten zu überrennen und in einer schnellen Zangenbewegung in südöstliche Richtung auf Paris vorzustoßen.

Tatsächlich ist der erste Eindruck, nähert man sich als Reisender über Landstraßen aus Antwerpen, noch heute der einer sagenhaften Leere. Der Geruch von Gülle liegt in der Luft, die Furchen der Äcker ziehen sich schnurgerade bis zum Horizont. Dort lugt in der Ferne eine Kirchturm hervor, da wacht ein einsames Wegkreuz, daneben ein Heuhaufen für die wiederkäuenden Rinder, darüber ein Krähenschwarm, der krächzend seine Kreise zieht und sich im trüben Wasser eines Teiches spiegelt.

Überhaupt ist hier alles grün und gelb und braun und grau, Mohn steht zu dieser Jahreszeit nirgends. Und doch schwingt da eine seltsame Präsenz durch diese trostlos weite Landschaft, die flach und friedlich und seltsam eigenschaftslos im Nebel liegt wie ein unbeschriebenes – oder ein sehr sorgfältig ausradiertes – Blatt Papier.

Mag sein, dass hier jedes Dorf sein Denkmal hat, die weißen Kreuze auf den zahllosen Soldatenfriedhöfen noch immer liebevoll gepflegt und neuerdings sogar Bunker restauriert werden. Trotzdem legt sich das Wissen darum, dass genau an dieser Stelle die europäischen Zivilisationen sich ineinander verkrallten, wie ein Schleier über die harmlosen Hügelchen ringsum. Was Einfallstor nach Frankreich sein sollte, erwies sich als Sackgasse, hier gruben sich die Nationen ein, hier liefen die Blut- und Knochenmühlen heiß. Deshalb kann aller Unscheinbarkeit zum Trotz von einer natürlichen Topografie keine Rede mehr sein bei einer Landschaft, deren fruchtbarer Sandlehmboden noch 90 Jahre danach erhöhte Konzentrationen von Eisen enthalten soll. Von hier mäanderte in südlicher Richtung bis zur Schweiz eine imaginäre Linie, die als Wasserscheide der Kulturen eine Idiotie war und im Ersten Weltkrieg zum Purgatorium werden sollte: „Vor uns flatterte eine gelbe Feuerwand, Detonation erfolgte auf Detonation, Häuserreste, ein Schauer von Erdklumpen, Ziegelstücken und Eisensplittern hagelte auf uns herab und schlug helle Funken aus den Stahlhelmen. Auch sah ich vor mir das stechende Mündungsfeuer der Maschinengewehre, doch war der tausendköpfige Bienenschwarm für das Ohr unhörbar.“ Es ist nicht die Erinnerung, sondern die Abwesenheit all dessen, was Ernst Jünger in seinem Roman „In Stahlgewittern“ so irritierend unterkühlt schilderte, was den Nachgeborenen noch heute verstört.

Folgt man der früheren Front nach Süden, passiert man einen Ort, an dem diese Abwesenheit spürbar wird. Mit offiziellen Straßenschildern sind hier stolz Eingang und Ausgang eines idyllisch gelegenen Dörfchens namens Fleury gekennzeichnet. Es ist alles, wie es sein sollte. Nur das Dorf, das ist verschwunden.

ARNO FRANK, Jahrgang 1971, ist tazzwei-Ressortleiter