Das große Scheitern

Neu aufgelegt: Alfred Döblins großes „Erzählwerk“ über die Revolution vom „November 1918“ – ein historischer Roman, der Maßstäbe für die Prosa eines ganzen Jahrhunderts setzte

VON JAN SÜSELBECK

Nein, es ist kein Statement unserer Tage: „Es muß wieder Leben in die gestörte Weltwirtschaft kommen, Verbindungen wiederhergestellt, neu geschaffen werden. Produktion braucht einen Absatzmarkt.“ Es ist vielmehr eine Bemerkung, die Sozialdemokraten schon nach dem Ersten Weltkrieg machten. Hier, in Alfred Döblins monumentalem „Erzählwerk in drei Teilen“ mit dem Titel „November 1918“, das der Fischer Verlag neu aufgelegt hat, stammt sie von dem Ex-SPD-Abgeordneten Eduard Bernstein, einem „milden Theoretiker“, aus einer Rede am Berliner Bülowplatz, gehalten am 23. November 1918.

Dass vieles von dem, was derzeit die Wirtschaftsnachrichten bestimmt, in der Geschichte nicht neu ist, wird beim Lesen von Döblins über 2.000-seitigem Spätwerk erfahrbar. Döblin war schon fast 60 Jahre alt, als er 1937 mit der Arbeit an seinem Projekt begann, das er auf der Flucht vor den Nationalsozialisten nach Frankreich und in die USA vorantrieb. Allein schon die abenteuerlichen Jahre, in denen der Autor unermüdlich an „November 1918“ schrieb, lassen es als ein Wunder erscheinen, dass es dieses Buch überhaupt gibt.

„Dies eine Jahr ist ein halbes Jahrhundert“, notiert Döblin bereits 1934 über die erste Zeit im französischen Exil. Im Mai 1940 beendet er gerade den zweiten Teil seines Romans, als die Deutschen die französische Front durchbrechen. Das Manuskript kommt in das Handgepäck, die Familie wird auseinandergerissen. Döblins Sohn Wolfgang wird als französischer Soldat versprengt und bringt sich um, um nicht in die Hände der Nazis zu fallen (wovon seine Eltern erst 1945 erfahren). Es folgt die übliche Odyssee: Probleme mit Pässen und Transitvisa, die für die jüdische Familie über Leben und Tod entscheiden, Flüchtlingslager. In den USA war Döblin dann vollkommen mittellos.

Zwar ist dies eine andere Geschichte als die, die „November 1918“ erzählt, aber man sollte sie kennen, wenn man die Bände heute liest – um ihren literaturgeschichtlichen Kontext zu ermessen. Den 1929 erschienenen Roman „Berlin Alexanderplatz“ als „äußerste, schwindelnde, letzte, vorgeschobenste Stufe des alten bürgerlichen Bildungsromans“ (Walter Benjamin) hatte Döblin damals schon längst publiziert. „November 1918“ erscheint dagegen auch als fundamentaler Baustein einer autobiografischen Lebensbilanz, die nicht nur das Ende des Ersten Weltkriegs zum Thema hat, sondern bereits die Rolle Deutschlands im weiteren 20. Jahrhundert kritisch ins Auge fasst.

„Alle Deutschen sagen: sie sind nicht besiegt“, bemerkt der antideutsche französische Schriftsteller Maurice Barrès im Roman über das Phänomen der „Dolchstoßlegende“ von 1918: „Der Deutsche ist kein Demokrat. Der Teufelsschoß ist zerfallen, der Teufel geblieben.“ Diese Prophezeiung sollte sich bewahrheiten, wie Döblin zu dem Zeitpunkt, als er dies seiner Figur in den Mund legte, schon wusste: „Ihr Land wird in den nächsten zwanzig Jahren unfähig sein, uns zu schaden“, räumt Barrès ein. „Aber nach zwanzig Jahren wird es sich wieder erheben.“

In Döblins Erzählwerk geht es aus multiplen Erzählperspektiven um Fragen, die die Geschichtswissenschaft bis heute nicht endgültig beantwortet hat: Was passierte mit der deutschen Gesellschaft in dem Moment, als die militärische Niederlage von 1918 eine Tatsache war und Millionen überlebender Soldaten zurückkehrten? Welche kollektiven Verdrängungs- und Brutalisierungsprozesse setzten hier ein? Wie wurde es möglich, dass sogar diese Deutschen gleichzeitig eine sozialistische Revolution erlebten – und warum genau scheiterte dieser Versuch so schnell?

Tatsächlich stehen nicht die „milden Theoretiker“ im Zentrum dieses Prosa-Panoramas, sondern die radikalen. „Karl und Rosa“ sind die Helden des voluminösen letzten Bands, also Liebknecht und Luxemburg, und auf der anderen Seite wird die aufkommende Freikorpsmentalität enttäuschter Frontkämpfer von Döblin erstaunlich subjektiv dargestellt. Er versetzte sich also in die Situation jener späteren Nazis, die auch die beiden berühmten Revolutionäre ermordeten, denen der Autor in seinem Text ein Denkmal setzte.

Friedrich Eberts Sozialdemokratie wird zugleich einfühlsam und kritisch dargestellt, ja letztlich als reaktionär entlarvt. Eberts melancholischen, ängstlichen, abwägenden und oft auch wütenden inneren Monologen, Reden und Gesprächen folgt man hier über weite Strecken immer wieder. Der Politiker sitzt in Berlin und telefoniert jeden Abend über die „Geheimlinie 998“ mit Hindenburgs Oberster Heeresleitung, die im Schloss Wilhelmshöhe in Kassel sitzt. Man belauert sich, versucht sich zu hintergehen und weiß doch, dass man sich im November 1918, noch vor dem Versailler Vertrag, nicht einfach ignorieren kann. Die politische Situation ist chaotisch, alles scheint möglich – sowohl eine Revolution des Proletariats nach dem russischen Vorbild von 1917 als auch eine Militärdiktatur. Eberts Paktieren führt jedoch schließlich zum blutigen Scheitern der Revolution.

Wie Döblin dies alles darstellt, setzte Maßstäbe für die Prosa eines ganzen Jahrhunderts. Er arbeitet mit „filmischen“ Schnitten, abenteuerlichen erzählperspektivischen Experimenten, rekurriert aber auch auf konkrete zeitgenössische Quellen wie Berliner Zeitungen. Das Verblüffendste ist, wie fesselnd dieser Text trotz seiner Vielschichtigkeit wirkt. Gerade auch zu Zeiten des Erfolgs eines zeitgeschichtlichen „Neorealismus“ in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, wie er gerade bei Uwe Tellkamp, Julia Franck und Ingo Schulze gefeiert wird, lohnt es sich, nachzuvollziehen, was in der Literatur des 20. Jahrhunderts in dieser Richtung längst schon einmal möglich war.

Alfred Döblin: „November 1918. Eine deutsche Revolution“. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2008. Erster Teil: „Bürger und Soldaten 1918“, 416 Seiten, 17,90 Euro; Zweiter Teil/Erster Band: „Verratenes Volk“, 492 Seiten, 18,90 Euro; Zweiter Teil/Zweiter Band: „Heimkehr der Fronttruppen“, 576 Seiten, 18,90 Euro; Dritter Teil: „Karl und Rosa“, 784 Seiten, 19,90 Euro