Wasser pumpen für den Ruhm

Nur weil eine 40-Jährige im Fernsehen ein Beziehungschaos nach dem anderen veranstaltet, kommen die Touristen in Scharen gefahren: Die Telenovela „Rote Rosen“, deren 500. Folge jetzt produziert wurde, lässt seit zwei Jahren die Stadt Lüneburg aufblühen wie schon lange nicht mehr

Die Zimmer, die im Fernsehen schön geräumig wirken, sind in Wirklichkeit so kompakt wie in der Ikea-Wohnausstellung

VON FLORIAN ZINNECKER

Die Alternative wäre eine ARD-Version von Forsthaus Falkenau gewesen. Oder irgendwas in Richtung Bergdoktor. Doch Günter Struve, bis vor einer Woche ARD-Programmdirektor, insistierte: Nicht immer nur in den Bergen. Sondern auch mal im Norden.

So, in aller Kürze, kam Lüneburg im Jahr 2006 zu den „Roten Rosen“. Seit genau zwei Jahren läuft die ARD-Telenovela aus Lüneburg jetzt frühnachmittags im Fernsehen. Täglich, am heutigen Montag zum 459. Mal – die zahlreichen Wiederholungen in den dritten Programmen nicht mitgerechnet.

„Rote Rosen“ ist, um mit den Worten von NDR-Intendant Lutz Marmor zu sprechen, „Deutschlands erste erwachsene Telenovela“. Im Mittelpunkt: eine Mittvierzigerin – die zwar, was ihr Beziehungschaos betrifft, keinen Deut besonnener agiert als ihre zwanzig Jahre jüngeren KollegInnen in „Verliebt in Berlin“.

Muss sie auch gar nicht: Für den Markenkern von „Rote Rosen“ reicht es vollauf, dass sie Mitte 40 ist. Erwachsen eben. In weiteren Rollen: ein Mehrgenerationenhaus, eine Gärtnerei und ein Hotel, dazu Männer, Frauen, Teenies und Senioren – jeder soll sich wiederfinden. Die 1,5 Millionen Zuschauer, die sich tatsächlich wiederfinden, sind nach ARD-Angaben zumeist ältere Damen jenseits der 60.

Der Darsteller der heimlichen Hauptrolle, präsent in zahlreichen Außenaufnahmen, ist mit rund 1.050 Jahren um einiges älter: Es ist Lüneburg selbst. An zwei Tagen pro Woche dreht das Team unter freiem Himmel – mit dem Segen des Oberbürgermeisters: „Ein Anruf genügt – für die sperre ich alles“, sagt OB Ulrich Mädge, wohl wissend um die Blüte, die die „Roten Rosen“ seiner Stadt bescheren: Nach Drehschluss der aktuellen Staffel wird das Produktionsteam der Stadt rund 70 Millionen Euro Umsatz eingebracht haben. Weitere 25 Millionen werden in die Region geflossen sein.

Im Büro von Jürgen Wolf, dem Geschäftsführer der Lüneburg Marketing GmbH, hängt ein Zettel mit einer aussagekräftigen Kalkulation: Es geht um die Summe, die Lüneburg bis heute bezahlt hätte, wenn die ARD statt der 48-minütigen Folgen täglich einen fünfminütigen Lüneburg-Spot zeigen würde: mehrere Millionen Euro. „Wenn es nach mir ginge, müsste man die ‚Roten Rosen‘ überhaupt nicht mehr beenden“, sagt Wolf. Die Serie ist auf dem besten Weg zu werden, was seinerzeit dem Glottertal die Schwarzwaldklinik war: Tourismusmagnet, Wirtschaftsfaktor, Markenkern. Lüneburg als heile Welt – nur gut gekleidete Menschen, immer gutes Wetter.

Gerade wurde die 500. Folge abgedreht und bei einem Empfang Anfang November gefeiert. Ein guter Abend für Lüneburg: „Wir fühlen uns hier wohl, und wir bleiben auch hier“, sagt Studio-Hamburg-Geschäftsführer Martin Willich. „Lüneburg“, konstatierte gleich darauf auch NDR-Intendant Lutz Marmor, „ist wie geschaffen für die Serie“. Ein solches Ausmaß an Lob würde bei einem Politiker unmissverständlich bedeuten: Danke, das war’s, morgen ist er weg vom Fenster. Anders diesmal: Mitte Oktober gab die ARD-Tochter Degeto 200 weitere Episoden in Auftrag. Intern ist längst von einer Ausweitung auf 1.000 die Rede.

„Es ist fantastisch“, sagt Oberbürgermeister Mädge. „Ich brauche ja nur morgens über den Marktplatz zu laufen, und schon fragt mich jemand nach dem Hotel Drei Könige“ – das in Wirklichkeit anders heißt, aber bereitwillig auf den Zug aufspringt und in Kooperation mit der Lüneburg-Marketing GmbH Arrangements mit Rote-Rosen-Torte und Merchandising-Präsent schnürt. Reiseveranstalter bieten Bustouren in die „Rote Rosen“-Stadt an, Lüneburgs Gästeführer haben eine „Rote Rosen“-Führung zu einzelnen Drehorten konzipiert. „In den nächsten Jahren“, sagt Wolf, „wollen wir die Frequenz der Führungen erhöhen“. Um wie viel sich der Lüneburg-Tourismus seit dem Serienstart gesteigert habe, lasse sich noch nicht genau beziffern, sagt Wolf. In ARD-Kreisen kursieren Zahlen zwischen zehn und 30 Prozent.

„Seit die Serie auch in Italien läuft – unter dem Namen ‚Segreti e Passoni‘ –, hören wir immer wieder, dass auch italienische Gäste in Lüneburg die Drehorte wiedererkennen“, sagt Wolf. Das romantische Deutschland werde im Ausland noch immer unterhalb von Frankfurt am Main gesehen – in Rothenburg ob der Tauber, Heidelberg, Neuschwanstein. „Schöne mittelalterliche Städte sucht man in der Regel nicht in Norddeutschland.“ Bis jetzt.

Wer nach dem Grund dafür fragt, dass die „Roten Rosen“ in Lüneburg erblüht sind, bekommt zu hören: Na, seh’n se sich doch nur mal um hier. Eine Backsteinvilla an der nächsten. Eine historische Altstadt, die zwei Weltkriege unbeschadet überstanden hat und inzwischen im großen Stil restauriert ist. Dann die Ilmenau. Ein Wasserturm, drei Kirchtürme, von denen zwei ein wenig schief in der Landschaft stehen. Bei dem einen hat sich der Baumeister verrechnet, unter dem zweiten gibt der Erdboden nach, weil hier früher Salz abgebaut wurde. Wirklich lotrecht stehen in Lüneburg die wenigsten Wände – was aber eher charmant als marode wirkt.

Der tatsächliche Grund für die Ansiedelung der „Roten Rosen“: Es ging um Geld. Lüneburg, sagt Mädge, habe sich mit einem höheren Zuschuss der städtischen Wirtschaftsförderung gegen Hannover durchgesetzt. „Und nichts gegen Hannover – aber die sind im Krieg zerstört worden. Wir nicht.“

In den „Rote Rosen“-Studios, genannt Studio Hamburg Serienwerft und gelegen im Industriegebiet im Westen Lüneburgs, freut man sich durchaus über die positiven Folgen der Serie auf die Stadt. Zur 500. Folge öffneten sich die Studio-Tore, mehr als 3.000 Besucher liefen durch die Kulissen und bejubelten die Darsteller, die sich spontan zu einer Band formiert hatten.

Das war’s dann aber auch, schließlich ist man nicht zum Spaß hier. Pro Woche werden fünfmal 48 Sendeminuten produziert – fünf fertige Folgen. Es gilt das Gesetz: Drei Seiten Text gleich eineinhalb Sendeminuten gleich 25 Minuten Drehzeit. „Wir verstehen uns als Manufaktur“, sagt „Rote Rosen“-Sprecher Dieter Zurstrassen. 150 Mitarbeiter sind hier beschäftigt. Produziert wird von Montag um 8.30 Uhr bis Freitag um 18.30 Uhr, „beziehungsweise so lange, bis wir fertig sind“, sagt Zurstrassen.

Das Studio, die ehemalige Europa-Zentrale des Unternehmens Konica-Minolta, ist in zwei Hälften geteilt. Schalldicht, damit zwei Teams unabhängig voneinander drehen können. Die Zimmer, die im Fernsehen wohnlich wirken, sind real nicht viel geräumiger als in der Ikea-Wohnausstellung. Aufzugtüren werden manuell aufgekurbelt, fließend Wasser gibt es nur, wenn jemand pumpt. Über dem Schneidetisch hängt ein kleines Schild: „Quote vs. Frust“.

Auch eine gut gemachte Telenovela könne Qualitätsfernsehen sein, betonte NDR-Intendant Marmor anlässlich der 500. Folge. Willich zitierte Ciceros Satz, alles Vortreffliche sei selten – nicht ohne zu versichern, „Rote Rosen“ sei natürlich eine Ausnahme. Mädge und Wolf sagen unabhängig voneinander etwas ganz Ähnliches. Viel mehr als zwei Folgen haben die beiden übrigens noch nicht gesehen. Aber darum geht es ja nicht.