Land vom Reißbrett

Der Irak hatte in seiner kurzen Geschichte nie die Chance, zu einem einheitlichen Land zu werden

von BEATE SEEL

Ein geflügeltes Wort im Irak lautet: „Zwei Iraker, drei Sekten.“ In der Tat: Im Irak, der 437.000 Quadratkilometer umfasst und damit knapp die Größe Schwedens erreicht, ist die Religion kein einigender Faktor. Zwar sind 96 Prozent der Einwohner Muslime, doch davon gehören 54 Prozent der schiitischen Glaubensrichtung des Islam an, während 46 Prozent der sunnitischen Mehrheitsströmung folgen. Christen und andere Minderheiten stellen 4 Prozent der Bevölkerung.

Die beiden islamischen Strömungen unterscheiden sich neben anderem durch ihre Vorstellungen über die Vermittlung des Glaubens: Schiiten vertrauen auf einen Imam als geistigen und weltlichen Führer, während Sunniten keinen Mittler zu Gott anerkennen. Außerdem spielt bei den Schiiten als – auch militärisch – unterlegener Strömung die Trauer und das Märtyrertum eine zentrale Rolle. Doch nicht nur in konfessioneller Hinsicht ist das Land gespalten. 80 Prozent der Einwohner sind Araber, 16 Prozent Kurden, der Rest unter anderem Armenier, Turkmenen und Iraner. Diese ethnische Mischung des Landes ist eine Folge der Staatsbildung nach dem Ersten Weltkrieg, als die Grenzen des Irak auf dem Reißbrett gezogen wurden. Großbritannien erhielt für Mesopotamien, das bis dahin zum Osmanischen Reich gehörte, ein Mandat des Völkerbundes. Die Kolonialmacht legte die ehemaligen Provinzen Bagdad, Basra im Süden und Mossul im Norden zum Irak zusammen. Durch Landflucht und Zwangsumsiedlungen leben heute jedoch viele Iraker nicht mehr in ihren angestammten Siedlungsgebieten. In der Hauptstadt Bagdad sind Angehörige aller Volksgruppen und Glaubensrichtungen vertreten.

Obwohl die schiitischen Araber die Mehrheit der Bevölkerung stellen, werden sie vom Staat ebenso benachteiligt wie die Kurden. Seit dem Ende der Kolonialzeit beherrschen die Sunniten das politische Geschehen des Landes. Sowohl die schiitischen Araber im Süden als auch die Kurden im Norden haben wiederholt rebelliert, unter anderem unmittelbar nach dem Ende des letzten Golfkriegs 1991. Die Aufstände wurden stets brutal niedergeschlagen. Bei einer eventuellen politischen Neuordnung des Landes werden daher die Sunniten die politischen Verlierer sein.

Der Irak hat in seiner jungen Geschichte als unabhängiger Staat nie die Chance gehabt, zu einem einheitlichen Ganzen zusammenzuwachsen. Während im Osmanischen Reich ein multikulturelles Zusammenleben Alltag war, wurde der neue Nationalstaat nach europäischem Vorbild weder durch eine einheitliche Kultur noch durch eine homogene Bevölkerung zusammengehalten. Neben den religiösen und ethnischen Spannungen spielt bis heute auch die jeweilige Stammeszugehörigkeit eine wichtige Rolle. Konflikte sind also seit der Staatsgründung vorprogrammiert. Sie begünstigten die Entwicklung hin zu Putsch und Gegenputsch sowie die Herausbildung diktatorischer Tendenzen.

Geografisch lässt sich das Land in drei Zonen einteilen: die zentrale Flussebene von Euphrat und Tigris, die kaum bewohnte Wüste im Südwesten und das Bergland im Nordosten. Mit ihrem Wasser, den fruchtbaren Böden und den reichen Ölvorkommen bestimmt die Flussebene das wirtschaftliche Leben. Hier verlaufen auch die wichtigsten Verkehrsverbindungen.

Historisch gesehen konnten die beiden Lebensadern des Landes für Mesopotamien nicht die gleiche einigende Rolle spielen wie der Nil für Ägypten. Wegen ihrer Untiefen und Sandbänke waren die Flüsse schwierig zu befahren. Noch im 19. Jahrhundert dauerte eine Schiffsreise von Bagdad nach Basra eine Woche. Das Flusstal gilt als eine der Wiegen der menschlichen Zivilisation. Schon vor rund 10.000 Jahren entstanden im Zweistromland die ersten größeren menschlichen Siedlungen, die zu Stätten des geistigen Fortschritts und – oft durch lange Kriege – zu Zentren von Großreichen heranwuchsen.

Früher produzierte der Irak ausreichend landwirtschaftliche Produkte. Seit der Verhängung von Sanktionen nach dem zweiten Golfkrieg ist das Land von Importen vor allem von Nahrungsmitteln und Medikamenten abhängig, die aus von der UNO überwachten begrenzten Ölexporten bezahlt werden. Die heutige wirtschaftliche und soziale Misere geht allerdings in erster Linie auf das Konto Saddam Husseins. In den Siebzigerjahren war der Irak ein aufstrebendes Land. Durch die Öleinnahmen genoss die Bevölkerung einen gewissen Wohlstand, es gab ein gutes Gesundheits- und Bildungssystem, das auch für Mädchen und Frauen offen war. Doch nach der irakischen Invasion in den Iran 1980 und in Kuwait 1990 war es damit vorbei. (mit dpa)

Zum Weiterlesen: Peter Heine,Schauplatz Irak, Herder 2002