DIE VOLKSABSTIMMUNG WIRD DEN KONFLIKT NICHT BEENDEN
: Kein Friede für Tschetschenien

Eine Zustimmung von über 90 Prozent, die Beteiligung nur knapp darunter und der Frieden in greifbarer Nähe: Es grenzt schon an Dreistigkeit, wie Russlands Führung den „Erfolg“ des Verfassungsreferendums in Tschetschenien zelebriert. Auch diesmal haben wieder Zwang, Erpressung und Fälschungen den „freiwilligen“ Urnengang in der Kaukasusrepublik flankiert. Dennoch hat Russlands Staatschef Wladimir Putin sein Traumergebnis bekommen und mit ihm die Möglichkeit, die Machtfrage, die seit Mitte der 90er-Jahre tausenden Menschen das Leben gekostet hat, in Moskaus Sinne zu entscheiden: Dem Referendum zufolge ist Tschetschenien nun ein fester Bestandteil der Russischen Föderation.

Doch einen Neuanfang für Tschetschenien stellt das Ergebnis der Abstimmung nicht dar. Das Morden, Foltern und Plündern – kurz der Krieg, der offiziell keiner ist – wird weitergehen. Warum sollten die Rebellen sich ausgerechnet jetzt von ihrer Unabhängigkeitsvision verabschieden? Zumal die Perspektive, bei ähnlich „demokratischen“ Präsidentenwahlen im kommenden Herbst den moskauhörigen jetzigen Verwaltungschef Ahmed-Hadschi Kadyrow vor die Nase gesetzt zu bekommen, nicht gerade verlockend ist. Und warum sollten auf beiden Seiten all diejenigen, für die sich das Schlachten im wahrsten Sinne des Wortes auszahlt, plötzlich zu Friedensengeln mutieren?

So wird sich eine Hoffnung von Wladimir Putin nach seinem grandiosen Sieg nicht erfüllen: das Thema Tschetschenien von der nationalen wie internationalen Tagesordnung abzusetzen. Zwar kommt Moskau derzeit zugute, dass alle Blicke auf den Krieg gegen Irak gerichtet sind. Auch hat sich das Ausland, politischen Opportunitäten folgend, in letzter Zeit ohnehin nur mäßig für Tschetschenien interessiert. Doch internationale Organisationen waren am Wahltag kaum mit Beobachtern vor Ort präsent, womit sie deutlich signalisiert haben, die Abstimmung nicht zu akzeptieren. Das lässt auf ein gewisses Maß an Kritik und Sensibilität schließen. Mit anderen Worten: Ad acta gelegt ist Tschetschenien noch lange nicht. BARBARA OERTEL