DIE BUNDESREGIERUNG VERSPIELT DAS VERTRAUEN IN DAS RENTENSYSTEM
: Schlagseite zu Lasten der Armen

Gestern Bekanntgabe eines Defizits von 650 Millionen Euro in der Pflegeversicherung, heute ein angeblich drohendes 800-Millionen-Loch bei der Rente – und selbst Ulla Schmidt glaubt nicht mehr daran, dass morgen die Krankenkassenbeiträge sinken. Die aktuellen Finanznöte in der Sozialversicherung bringen die gerade wiederentdeckte ruhige Hand des Kanzlers ganz schön ins Schwitzen.

Nun sind akute Finanzprobleme der Rentenversicherer kein Beleg für ein Scheitern der rot-grünen Rentenreformen. Deren Einspareffekte werden erst in den nächsten Jahren sichtbar. Ob das für kommenden Herbst prophezeite Rentenloch wahr wird, hängt von der Entwicklung von Konjunktur und Arbeitsmarkt ab. Nur wenn sie hinter den Erwartungen zurückbleibt, drohen den Rentenversicherern Zahlungsschwierigkeiten. Bislang glich die Schwankungsreserve der gesetzlichen Rente die Differenz zwischen den im Jahresverlauf stabilen Rentenausgaben und den saisonal schwankenden Einnahmen aus. Durch die Senkung der Reserve bedeutet nun jede Konjunkturflaute eine Zitterpartie für die Rentenauszahlung.

Doch die Mehrheit der Rentner, denen die Rürup’sche Welt der Demografiefaktoren, Schwankungsreserven und Nachhaltigkeitsformeln fremd ist, liest heute vom Rentenloch und stellt demnächst fest, dass ihre Renten aufgrund des künftig vollen Pflegebeitrages und teilweise steigender Krankenkassenbeiträge deutlich sinken. Sie werden das Vertrauen in das Rentensystem verlieren.

Der Konflikt ist exemplarisch für das Reform-Dilemma des Kanzlers: Seine Sozialreformen mit Schlagseite zu Lasten der Armen verursachen heute Härten – und entspannen doch kaum die prekäre Finanzlage der sozialen Sicherungssysteme. Doch die vom Amtsvorgänger übernommene Politik des Aussitzens und Verschiebens von Belastungen von einem Sicherungssystem ins andere funktioniert wegen ihrer desolaten Finanzsituation nicht mehr. Und die Chance, eine gesellschaftliche Mehrheit für einen zukunftsfähigen und sozial gerechten Umbau des Sozialsystems zu mobilisieren, hat Rot-Grün wohl verspielt. HARRY KUNZ