Jesus liebt Zahren

In einem Übergangswohnheim im mecklenburgischen Zahren sollte der Sexualstraftäter Werner K. therapiert werden. Doch die Zahrener wollen ihn nicht als Nachbarn hinnehmen. Werner K. verließ den Ort. Nun will man verhindern, dass jemals wieder ein Sexualstraftäter aufgenommen wird

von FRIEDERIKE GRÄFF

Was ist schon zu sehen in Zahren? 357 Einwohner, ein paar langgestreckte Bauernhäuser, die sich im Nebel aneinander ducken, das Schloss. Wenig. Und doch ist Zahren der richtige Ort, um zu erfahren, wie die Leute auf jemanden reagieren, vor dem sie Angst haben. Auf einen Sexualstraftäter, den sie für gefährlich und unbelehrbar halten. Und wie es denen ergeht, die sich um ihn kümmern. Man erfährt eine Menge in Zahren, aber was man daraus lernt, ist schwierig zu sagen.

Den Zugang zu Schloss Zahren hat Werner K. gepflastert. „Er hat dort noch im Dunkeln die Blumen eingepflanzt“, sagt Elke Simon und dass die anderen da schon längst Feierabend gemacht hätten. Werner K. hat vier Frauen vergewaltigt und eine Minderjährige missbraucht, er wurde nach jeder Entlassung rückfällig und verweigerte jegliche Therapie. Wäre es nach den Behörden gegangen, säße er jetzt in Sicherungsverwahrung. Elke Simon leitet das sozialtherapeutische Übergangswohnheim im Schloss gemeinsam mit ihrem Mann Uve. Doch die Zahrener wollten, dass er ginge und schließlich wollten das auch die örtlichen Politiker, das Innenministerium und die Diakonie. Und wenn sie sich durchsetzen, wird in Zahren nie wieder ein Sexualstraftäter therapiert.

Das Übergangswohnheim gehört zum Blauen Kreuz, einem christlichen Verein, der Suchtkranke betreut. Uve Simon, ein fülliger, lauter Mann mit großem Kreuz um den Hals, ist Pfarrer, Elke Simon Diakonin und der Gottesdienstbesuch in Zahren Pflicht. Elke Simon ist eine mädchenhafte Frau mit langen dunklen Haaren, nicht so laut wie ihr Mann, aber zornig, das ist sie auch: „Was haben die Leute denn gedacht, wen wir hier haben?“, fragt sie. „Hühnerdiebe?“ 1997 haben sie das Haus mit 28 Plätzen eröffnet für Menschen, die, so steht es auf ihrer Internetseite, besondere soziale Schwierigkeiten haben und die „auf Grund erheblicher sozialer Reifungsdefizite oder Verhaltensstörungen gekennzeichnet durch Suchtgefährdung und Straffälligkeit von Haft bedroht sind“. Das klingt unerheblich, aber es ist wichtig geworden, seitdem der Innenminister und die Zahrener finden, dass das Wohnheim nicht der geeignete Ort sein kann für Menschen wie Werner K.

Der ist nach seiner Entlassung nicht direkt zu ihnen gekommen. Als der Bundesgerichtshof die nachträgliche Sicherungsverwahrung für ihn ablehnte, suchte das brandenburgische Justizministerium eine Therapieeinrichtung für Werner K., der Anfang des Jahres freigelassen werden musste. Er steht seitdem unter Führungsaufsicht, er darf außer Haus nichts mit sich führen, womit er ein Opfer fesseln könnte und er soll eine Therapie beginnen – wobei dies die einzige Auflage ist, die nicht „strafbewehrt“ ist. Wenn Werner K. sich weigerte, verlängerte sich lediglich die Führungsaufsicht.

Aber keine Einrichtung wollte ihn aufnehmen, aus „Angst vor Stigmatisierung“, so sagt es der Sprecher der Justizbehörde, Thomas Melzer. Schließlich schrieben die Zeitungen über Werner K. als „die Bestie“. Als er in seine Heimatstadt Joachimsthal zurückkehrte, demonstrierten die Bürger mit „Todesstrafe“-Schildern vor seinem Haus, die NPD war vorne dabei. Werner K., der zuvor nie etwas von einer Therapie hatte wissen wollen, ging freiwillig in eine psychiatrische Klinik. „Natürlich ist das ein schlechter Befund“, sagt Thomas Melzer: „Wenn der Druck der Straße höher ist als der Leidensdruck in der Haft. Die Leute erklären sich dann bereit zu Dingen, die fast schon erschreckend sind.“ Die Psychiater entließen Werner K. nach drei Tagen wieder, sie konnten keine psychiatrische Erkrankung bei ihm finden.

Schließlich wurde die brandenburgische Behörde im Nachbarland fündig, eine freundliche Geste der mecklenburgischen Justizministerin, so könnte man sagen. Werner K. kam nach Zahren. „Ein einfacher, schlichter Mann“, sagt Uve Simon über ihn. „Sonderschulniveau“. Fleißig, er hat sich vom Teilfacharbeiter zum Facharbeiter hochgearbeitet. Und schwer gestört. „Wie ein Eisberg vor Grönland, nur ohne Klimakatastrophe.“ Werner K. blieb nur zwei Wochen. Denn die Zahrener ahnten nichts Gutes, als plötzlich Streifenwagen zweimal pro Tag über die Kopfsteinpflasterstraße ratterten. Bald wussten die Zeitungen, dass Werner K. in Zahren war.

Dass ein Sexualstraftäter ins Schloss kam, konnte eigentlich keine Überraschung für die Zahrener sein. Bereits 2000 hatte im örtlichen Nordkurier gestanden, dass im Wohnheim „vom Brandstifter bis zum Sexualstraftäter alle Tätergruppen vertreten“ seien. Bislang war nie etwas passiert. Einmal hatte ein Jugendlicher eine alte Dame bedroht, die ihm keinen Alkohol in ihrem Laden verkaufen wollte. Einmal wurde eine Vespa geklaut.

Diesmal war nichts passiert. Uve Simon glaubt, dass eine Therapie der beste Schutz für die Gesellschaft ist, aber er sah unter diesen Umständen für Werner K. keine Chance, sie in Zahren zu beginnen. Er fuhr ihn zurück nach Joachimsthal, anschließend ins Justizministerium, um die Bedingungen für einen zweiten Aufenthalt zu klären. Werner K. kam wieder, laut Uve Simon „öffnete er sich“. Er sagte den Polizisten von sich aus, wann er in welchen Raum im Haus gehen wolle. Er stimmte zu, eine elektronische Fußfessel zu tragen. Die Polizisten begannen, statt in Uniform in Zivil zu kommen.

Im Arbeitszimmer von Uve Simon, dem ehemaligen Gefängnispastor, hängen zwei Bilder: Eines hat ein großes Herz, daneben steht „Jesus liebt Zahren“, auf dem anderen ist die Titanic zu sehen. In diesem Herbst steht das Wohnheim mehr auf der Titanic-Seite. Die Zahrener wollten sich nicht damit abfinden, dass Werner K. wieder an ihrer Seite lebte. Es gab eine Demonstration im Ort und dass vor allem Auswärtige dabei gewesen sein sollen, hilft nur wenig. Auch der Pfarrer war dabei. „Warum bist du hier?“, fragte ihn Elke Simon. „Die Superintendentin hat mich hinbeordert“, sagte er. Er forderte dann, dass die Arbeit auf Schloss Zahren transparenter werden solle. „Was soll das heißen?“, fragt sich Elke Simon. „Dass wir alle Bewerber vorher dem Dorf zur Genehmigung vorlegen müssen?“

Die Bürgermeisterin schreibt dem Vereinsvorstand einen Brief und der Innenminister Mecklenburg-Vorpommerns schickt einen an Uve Simon. Darin steht in etwa das Gleiche: Dass sie glauben, dass das Wohnheim für die Therapie von Sexualstraftätern nicht ausreichend qualifiziert sei. Und dass sie empfehlen, Werner K. an einen anderen Ort zu schicken. Mehr als empfehlen können sie nicht, denn Werner K. ist ein freier Mann.

„Er hat eine Auflage für eine Sozial-, nicht für eine Sexualtherapie“, sagt Uve Simon. „Und dafür sind wir goldrichtig.“ Die Landrätin gibt eine Pressemitteilung heraus, in der steht, dass die Unterbringung von Werner K. aus ihrer Sicht „eine Gefährdung für die Bevölkerung unseres Landkreises“ sei. Uve Simon schreibt der Landrätin einen Brief, in dem er sich als ihren Wähler vorstellt und darauf verweist, dass „40 weitere Wähler seiner Wahlempfehlung gefolgt sind“. Er glaubt, dass mit einer Bewachung durch zwei Polizeibeamte rund um die Uhr für ausreichend Sicherheit gesorgt ist.

Aber die Leute fühlen sich nicht sicher. Sie haben Angst um ihre Kinder und sie sehen nicht ein, warum sie das aus Rücksicht auf einen Mann wie Werner K. aushalten sollen. Und dann sind da die Touristen, die abgeschreckt werden könnten. Bei einem Elternabend, den die Gleichstellungsbeauftragte einberuft, kommt Uve Simon kaum zu Wort. „Fast hätten sie meinen Mann gelyncht“, sagt Elke Simon. Die Leuten fragen ihn, warum er sich anmaße, einen Mann wie Werner K. therapieren zu können. Und eine Mutter sagt: „Ich werde so lange kämpfen, bis es euch nicht mehr gibt.“

„Ich will ja ordentlich leben, warum krieg’ ich keine Chance?“, fragt Werner K. Die Leute außerhalb finden, dass er genügend Chance gehabt und verwirkt habe. Nur die Bewohner und die Mitarbeiter von Schloss Zahren finden, dass er bleiben solle. Sie stimmen darüber ab und es gibt nur eine Gegenstimme.

Aber dann meldet sich der Leiter der Diakonie Mecklenburg-Vorpommern, Hartwig Daewel. Die Landessuperintendentin hat ihn angerufen und wissen lassen, dass sich die Menschen wegen Werner K. Sorgen machten. Nun lässt Hartwig Daewel Uve Simon wissen, dass die Arbeit auf Schloss Zahren schwierig werde, wenn Werner K. weiterhin bliebe. Schließlich sei solch eine Einrichtung auf Akzeptanz angewiesen. „Ich habe nicht gesagt: Er muss gehen“, sagt Hartwig Daewel dazu am Telefon. „Wir sind gar nicht weisungsbefugt.“ Und er sagt noch, dass er lange Jahre im Vorsitzender der Bundeskonferenz Straffälligenhilfe gewesen sei und er die Leute verstehen könne, die sich für Werner K. engagierten.

Uve Simon denkt an die 30 Arbeitsstellen, die wegfielen, wenn er sich nicht fügte. Er sagt zu, Werner K. wegzuschicken. Doch der Vorstand des Vereins beschließt anders. Einer der Vorsitzenden ist Pastor Reinhard Holmer. Sein Vater hat das Ehepaar Honecker aufgenommen. Er weiß, wie es ist, wenn Leute vor dem Haus mit Plakaten stehen, auf denen einer der Bewohner am Galgen hängt. „Wir sehen uns als diakonische Einrichtung, die Menschen Hilfe gewährt, wenn sie es kann“, sagt er. Und wenn er hört, dass Leute sich ihren Nachbarn selbst aussuchen wollen, wird er heftig: „Erst sind es Sexualstraftäter, dann Menschen mit Behinderung und dann Juden.“

Als Uve Simon dem Diakoniechef die Vorstandsentscheidung mitteilt, reagiert der verständnislos. Hartwig Daewel sagt, so berichtet es zumindest Simon, dass unter diesem Umständen eine weitere Zusammenarbeit wohl schwierig werde.

Aber bevor Uve Simon das Problem auf der Jahresversammlung des Vereins besprechen kann, kommt ihm Werner K. zuvor. Er hat im Nordkurier gelesen, dass der mecklenburgische Innenminister es wünschenswert fände, dass Werner K. das Land so bald wie möglich verließe. Werner K. verlässt Zahren am 10. Oktober.

Der stellvertretende Landrat hat inzwischen gefordert, dass künftig nur noch Menschen ohne Führungsaufsicht in Zahren unterkommen dürfen. Uve Simon möchte diese Vorgabe so formulieren: „Ausgeschlossen sind Hilfesuchende, die prognostisch und akut potenziell gemeingefährlich sind“. Die werden aus den Vollzugsanstalten nämlich erst gar nicht entlassen.

Werner K. wird von einem Therapeuten aus dem Übergangswohnheim jetzt einmal pro Woche besucht. Uve Simon kommt alle zwei Wochen vorbei. Er findet, dass Werner K. Fortschritte macht. Eine stationäre Therapie, so sagt er, wäre eigentlich besser. Der Kontakt sei dann viel enger.

Wenn man den Sprecher der brandenburgischen Justizbehörde fragt, warum der Fall Werner K. für so viel Aufsehen gesorgt habe, dann antwortet er: „Zufall“. Es sei Sauregurkenzeit gewesen. Und Joachimsthal eine Kleinstadt. Der Sprecher sagt, dass es viele ähnliche Fälle gebe. Es bemerke sie nur niemand.