Lernmittelfreiheit, ade

Sarrazin sieht bei der Lernmittelfreiheit Sparpotenzial. Eltern sollen am Kauf der Schulbücher beteiligt werden. Ein Thema, das Profilierungsprobleme der rot-roten Koalition zeigt und Eltern aufbringt

von MATTHIAS BRAUN

Wer Berlins jährliche Neuverschuldung auf einen Zettel schreibt, sieht eine Zahl mit neun Nullen. Seit Anfang des Jahres debattieren rot-rote Fachpolitiker über die Frage, inwieweit Eltern künftig für die Schulbücher ihrer Kinder zur Kasse gebeten werden sollen. Geplante jährliche Einsparung: eine Zahl mit sechs Nullen. Peanuts.

Peanuts jedoch, die der rot-roten Koalition schwer im Magen liegen. Beide Regierungsfraktionen haben sich über das Thema so zerstritten, dass sich jetzt der Koalitionsausschuss der Frage der Lernmittelfreiheit widmen soll.

Denn auch die Senatorenrunde konnte sich am vergangenen Dienstag nicht auf eine gemeinsame Position einigen. Die Frontlinien verlaufen zwischen Finanzsenator Thilo Sarrazin und Bildungssenator Klaus Böger. Der eine will sparen, der andere will Berlin als Bildungsstandort profilieren.

Das Thema selbst hat für die Parteibasis der Koalitionäre einen erhöhten Symbolwert, geht es doch um Chancengleichheit. Hinzu kommen offensichtlich atmosphärische Störungen zwischen den beiden Regierungsparteien. Auf den Fluren des Abgeordnetenhauses wird Klaus Wowereit der Satz in den Mund gelegt, die PDS gewinne zu oft. Eine Anspielung darauf, dass die neue Intendantin des Rundfunks Berlin-Brandenburg nicht seine Favoritin war, sondern die der PDS.

Die Opposition und Elternvertreter nutzen diese Befindlichkeiten, um sich mit eigenen Konzepten zu profilieren. Die Grünen ventilieren schon länger, dass ihnen eine Art „Brandenburger Modell“ (siehe unten) am ehesten zusagt. Das hieße, die Eltern würden mit einem Drittel am Schulbuchkauf beteiligt, ausgenommen Sozialhilfe- und Wohngeldempfänger. Grundschulen liehen ihre Bücher weiterhin aus.

Ein solches Zwei-Säulen-Modell, bei dem sich Staat und Eltern die Finanzierung teilen, lehnen die Sozialdemokraten ab. Die Stadt solle Geringverdiener zwar unterstützen, sagt Fachpolitikerin Renate Harant. Zwei Drittel bis drei Viertel der Kinder müssten ihre Schulbücher jedoch von den Eltern kaufen lassen. Die PDS hingegen will Eltern an der Schulbuchfinanzierung beteiligen. Deren Anteil solle jedoch 60 Euro im Schuljahr nicht übersteigen, sagt Schulexpertin Siglinde Schaub.

Mit einer pauschalen Kritik an der Idee, Eltern sollten die Schulbücher ihrer Kinder bezahlen, beginnen sich Eltern zu regen. An der Kreuzberger Klara-Grunwald-Schule sammelten Elternvertreter 773 Unterschriften. „Wir sind dagegen, die Lernmittelfreiheit abzuschaffen“, sagt Inge Hümpfer, deren Tochter die Grunwald-Schule besucht. Sie habe im laufenden Schuljahr bereits 50 Euro für Schulmaterialien ausgegeben. Trotz angeblicher Lernmittelfreiheit.

Die Unterschriftenlisten aus der Grunwald-Schule liegen seit Mitte letzter Woche bei Klaus Böger. Der hatte versprochen, bis zum 10. April seine Lösung der Lernmittelfrage zu präsentieren. Sollte der Koalitionsstreit noch eine Weile dauern, könnte es sein, dass zu den knapp 800 Kreuzberger Unterschriften, neue hinzukommen.