zwischen den Rillen
: Opium fürs Volk

Gutes Timing, schlechtes Timing: Air melden sich mit ihrem drittem Album „Talkie Walkie“ endlich zurück auf der Liegewiese

Kein Zweifel: Die Geschichte der Popmusik ist immer auch eine Geschichte des Drogenmissbrauchs. Eine Erzählung von maßloser Beschleunigung, von Größenwahn und Weltflucht, ups and downs und all den Zuständen dazwischen – schließlich kann weder immer Silvester noch immer Neujahr sein. Als Air Ende 97 die Szenerie betraten, herrschte eindeutig Silvesterstimmung; das Tempo wurde angezogen; spätestens seit Daft Punk hatte auch der letzte Rock-Stalinist eine Ahnung davon, dass Bier alleine Brüste macht und das ganze Club-Ding doch nicht den Untergang seines Schweineorgel-Abendlandes bedeutete.

„Moon Safari“ erschien in dem Moment, in dem der Rave-Irrsinn seinem Höhepunkt entgegensteuerte, ein kleines Wunder, das all denen Entschleunigung versprach, die gerade den letzten Rest inhaliert und das letzte Brot gebrochen hatten. Schön warm war es; einfach nur zusammen rumliegen, an die Decke starren, ein bisschen auf Mondsafari gehen und warten, bis der Schlaf die Synapsen entknotet. Und das Schönste daran: Es funktionierte auch ohne. Plötzlich saßen Gott und die Welt in Rückenlage, etwas Geschäumtes oder mit Kirsche Dekoriertes zwischen den Fingern, als würden sie auf ein Zeichen warten, und siehe da: Es wurde „Lounge“. Air waren Stars und ihr Album verkaufte sich besser als Lavalampen.

Und auch wenn seitdem hauptsächlich Cocktailtrinker und Mittelschichtskiffer den Air-Sound für sich beanspruchen, die Drogenmissbrauchsfrage lässt sich im Falle Air mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit beantworten – spätestens jetzt, mit Erscheinen ihres dritten Albums „Talkie Walkie“: nicht sie, das viele Opium ist’s gewesen.

Wirkten sie nicht immer schon etwas entrückt, die zwei Pariser, die stets so aussahen, als seien sie bereits in lachsfarbenen Lacoste-Hemden zur Welt gekommen? Verbreitete nicht schon „Moon Safari“ eine ebenso sinn- wie schwerelose, alles einlullende Zufriedenheit? Wieso sprachen sie in Interviews – wenn sie überhaupt sprachen – in Slow Motion von Baudelaire-Gedichten? Und waren nicht all die „Lounges“, die mit Hilfe ihrer Musik die Innenstädte der Industrienationen eroberten, kaum mehr als kassenärztlich unbedenkliche Bausparversionen der längst in Vergessenheit geratenen Opiumhöhlen?

Nur kurzfristig sah es so aus, als wären Air ihrer medikamentös wirkenden Milde überdrüssig geworden, als wollten sie das eitel Wohlgefallen auf Teufel komm raus mit abgründiger Psychedelik brechen. Ihr zweites Album, „10.000 Hz Legend“, funktionierte exakt wie der Antiraucherspot, der zurzeit im Fernsehen läuft: Mann und Frau flirten im Café, er bietet ihr eine Zigarette an – alles super, alles sexy – bis ihr krächzendes Kehlkopfmikro die Harmonie jäh zerreißt. Nichts anderes passierte auf „10.000 Hz Legend“: Immer dann, wenn man sich rein mental auf dem Weg in ein Sonnenblumenfeld wähnte, machten Air kehrt, als wollten sie ihre beschauliche Mondsafari zur „Dark Side Of The Moon“ umleiten. Ein klarer Fall von Mischkonsum, der speziell der Cocktailfraktion auf den Magen schlug: Opium gern, aber bitte nicht mit Pilzen, da wird mir gleich ganz flau.

Sie haben es sich, scheint es, zu Herzen genommen: „Talkie Walkie“ macht da weiter, wo die Moon Safari einst endete. Nicht eine Neon-Leserin muss fürchten, sich beim Fußnagellackieren erneut das Bettlaken zu ruinieren: keine Fallen, keine Tricks – alles so schön ruhig hier.

Air surfen gemächlich auf Raketen („Surfin on a rocket“), statt zum Mond geht es zur Venus („Venus“) und das, ohne sich auch nur einmal von ihren brokatbesetzten Chaiselongues zu erheben. Wie auch? Was gaga anmutet („Alpha Beta Gaga“) ist in Wahrheit biologisch bedingt („Biological“): Das Zeug wirkt nun mal so und taucht, wie ein Weichzeichner, noch die explizitesten Situationen in ein irreal warmes Licht. Kein Wunder, dass Scarlett Johansson und Bill Murray „lost in translation“ sind und nicht zur Sache kommen, während im Hintergrund „Alone in Kyoto“ läuft. Wer Air hört, ist, falls er den Arm noch hochkriegt, zum Streicheln verurteilt. Mehr ist nicht drin, wozu auch, wenn man sinnlos zufrieden ist.

Bleibt die Frage, ob sie „Talkie Walkie“ nicht besser als zweites und „10.000 Hz Legend“ als drittes Album hätten veröffentlichen sollen. Das für gewöhnlich gut informierte Frauenmagazin Amica meldet in seiner Februarausgabe, „Loungen“ sei definitiv out, während englische Drogenexperten ein bescheidenes Magic-Mushroom-Revival prognostizieren. Das wäre dann wohl ein klassischer Fall von schlechtem Timing. Anderseits: Timing soll auf Opium so entscheidend ja nicht sein. CORNELIUS TITTEL

Air, „Talkie Walkie“ (Virgin)