Inseln im Propagandameer

Der Nachrichtensender al-Dschasira hat eine neue Diskussionskultur in die arabische Welt gebracht. Doch zwischen politischem Druck und neuer Konkurrenz balanciert die Redaktion auf schmalem Grat

Auch mit Kairo und Tunis gibt es immer wieder etwas Ärger. Und mit den USA

von JULIA GERLACH

Auf ihrem Schoß liegt ein dunkelblaues Al-Dschasira-Polohemd. Chris ist begeistert: „Wow, das ist ja echt cool“, findet sie. Das ist erstaunlich, denn Chris ist ein Hamburger Punk. Normalerweise würde sie sich eher den Fuß abhacken, als ein Polohemd auch nur anzufassen. Aber das goldgestickte, tropfenförmige Al-Dschasira-Logo macht das Hemd für sie zum Kultobjekt.

Al-Dschasira („Die Insel“ – der Name bezieht sich auf die arabische Halbinsel, den Sitz der Redaktion) ist der einzige arabische TV-Sender, der auch im Westen bekannt ist, obwohl die meisten hier das Programm gar nicht sehen können. Durch die Ausstrahlung der Video-Botschaften Bin Ladens ist der Nachrichtenkanal weltweit bekannt geworden. Seitdem hängt ihm der Ruf eines „Desperado-Senders“ an.

Auch in der Region selbst: In der arabischen Welt findet das Al-Dschasira-Merchandising reißenden Absatz, schließlich erreicht der Sender mehrere Millionen Zuschauer, die ihn über Satellitenschüsseln empfangen. Allerdings achten die meisten seiner Fans darauf, wo und wann sie das Abzeichen des Senders öffentlich präsentieren. Ein Al-Dschasira-Aufkleber könnte etwa, beispielsweise an der Grenze zu Ägypten, die Einreise endlos in die Länge ziehen. Denn viele Regierungen der Region sind gar nicht gut auf den „Krawallsender“ zu sprechen. Die Berichterstattung hetze die Bevölkerung gegen ihre Führer auf, so lautet der Vorwurf.

Zu deutlich wird auf al-Dschasira nämlich ausgesprochen, dass die meisten Regimes in der arabischen Welt kaum mehr als Lippenbekenntnisse für die Sache der Palästinenser übrig haben. In den Monaten vor Kriegsbeginn berichtete al-Dschasira nicht nur über den Aufmarsch der amerikanischen und britischen Truppen am Golf, sondern auch darüber, wie die Regierungen in der Region mit den USA zusammenarbeiten. Prompt wurden die Korrespondenten von al-Dschasira aus Kuwait und Jordanien ausgewiesen.

Auch aus Algerien und Bahrain kann al-Dschasira kaum berichten, und selbst mit den eher liberalen Regierungen in Kairo und Tunis gibt es immer wieder Ärger. Besonders schlecht ist jedoch die saudische Regierung auf den Sender zu sprechen. Bislang hatte das Königshaus noch immer viele arabische Medien und Fernsehstationen durch sanften Druck und saftige Finanzspritzen davon abhalten können, die Doppelmoral der saudischen Herrscher zu kritisieren. Doch dann kam al-Dschasira und lud saudische Oppositionelle zu seinen Talkshows ein.

Mit solchen Sendungen hat al-Dschasira eine neue Diskussionskultur in die arabische Welt gebracht. Programme wie Faisal al-Kassems „Die entgegengesetzte Meinung“, bei der sich allwöchentlich zwei Studiogäste über aktuelle Themen streiten, oder die Interviewreihe „Ohne Grenzen“ von Ahmed Mansur haben die arabische Fernsehkultur verändert und werden längst von anderen TV-Stationen imitiert.

Der eigentliche Quotenbringer aber sind die Berichte über die aktuelle Intifada: je emotionaler, desto besser. Slow-Motion-Bilder von Jugendlichen, die Steine werfen, von brutalen israelischen Soldaten und weinenden Kindern, dazu pathetische Musik: Mit solchen Trailern wird auf al-Dschasira für Talkshows und Dokumentationen geworben. In den Nachrichten wird täglich über die Entwicklungen im Westjordanland und im Gaza-Streifen berichtet. Die Reporter sind oft selbst Palästinenser, Kinder der ersten Intifada in den Achtzigerjahren. Kein Wunder, dass ihre Berichte sich für westliche Ohren parteiisch anhören.

Das Wort „Märtyrer“ versuchen die Redakteure von al-Dschasira allerdings zu vermeiden: Hier werden die Selbstmordattentäter, ein wenig abgeschwächt, Freiheitskämpfer genannt oder mit dem Begriff „einer, der sich zum Märtyrer machen will“ bezeichnet. Die Sprecher der radikalen Organisationen Hamas und al-Dschihad sind dennoch häufige Interviewpartner in den Nachrichtenprogramm des Senders. Dort bekennen sie sich live zu ihren Taten und erklären ihre Motive. Es kommen allerdings auch andere Stimmen zu Wort: palästinensische Intellektuelle, die Selbstmordattentate ablehnen. Und, das ist einzigartig in der arabischen Welt, auch die ganz andere Seite: Regelmäßig werden israelische Regierungvertreter als Gesprächspartner zugeschaltet. Auch das bringt al-Dschasira viele wütende Zuschauerproteste ein. Und den Vorwurf, der Sender stehe im Dienste „der Zionisten“.

Al-Dschasira tritt zwar als unabhängiger Sender auf, ist jedoch aufs Engste mit dem Herrscherhaus von Katar verflochten. Im Aufsichtsrat sitzt ein Familienmitglied des bestimmenden Al-Thani-Clans, und der Sender wird finanziell von der Regierung unterstützt. So ist al-Dschasira auch ein verlängerter Arm der Außenpolitik des Emirs. Zum einen versucht dieser, durch diplomatische Initiativen und Vermittlungen, sein Land wichtiger zu machen, als es seiner Größe nach ist. Auf der anderen Seite zeigt er mit „seinem“ Sender, wie wichtig er die Sache der Demokratisierung in der arabischen Welt nimmt.

Manchmal geraten diese Interessen in Widerspruch. So hat der Emir die US-Streitkräfte mit offenen Armen eingeladen, in seinem Land ihr Hauptquartier einzurichten. Das hat es al-Dschasira im vergangenen Jahr nicht leicht gemacht: Wie sollte der Sender über den Aufmarsch der US-Truppen direkt vor seiner Haustür berichten, ohne den Emir in Schwierigkeiten zu bringen? Lange Zeit schwieg er, bis er im Oktober vergangenen Jahres endlich einen langen Bericht über den US-Stützpunkt brachte.

Britischer Journalismus gilt als Vorbild für al-Dschasira: Präzise und schnell soll er sein, und jede Information muss durch zwei Quellen belegt werden. Aus einem Modellprojekt der BBC, das 1995 für einige Monate Nachrichten für die arabische Welt sendete, ist einst der Kern der Redaktion hervorgegangen. Der Emir aus Katar kaufte 1996 aus der Konkursmasse des britisch-arabischen Medienexperiments Anteile und Journalisten auf und gewährte ihnen eine redaktionelle Freiheit, wie sie bis dahin im arabischen Raum weitgehend unbekannt war.

Bis dahin hatte in den meisten arabischen Ländern das Staatsfernsehen dominiert unter strikter Kontrolle der jeweiligen Informationsminister. Hauptaufgabe dieser Sender war und ist es, amtliche Informationen und Verlautbaungen unter das Volk zu bringen. „Heute hat der Präsident Ägyptens eine Botschaft des Präsidenten von Syrien erhalten. Anschließend trafen sie sich zum Gedankenaustausch über aktuelle Themen.“ So klangen damals dessen Nachrichten. Dazu wurden die beiden Präsidenten beim Teetrinken gezeigt.

1991 war mit MBC dann das erste private Nachrichtenprogramm für die arabische Welt auf Sendung gegangen, das eine neue Ära einläutete. Inzwischen gibt es eine Vielzahl von arabischen Satellitenprogrammen – allerdings nur wenige, die wie Abu-Dhabi-TV oder al-Khalifa Qualitätsnachrichten bringen.

MBC sendete lange Zeit aus London, das noch immer als eine führende Medienmetropole der arabischen Welt gilt. Das freiheitliche Klima in Europa galt als Garant für einen unabhängigen Journalismus. Doch die Zeiten ändern sich: Jetzt wird der Persische Golf zum neuen Medienstandort ausgebaut.

Allen voran die neue Media-City von Dubai lockt arabische Medien in ihre Region zurück. MBC hat hier im vergangenen Jahr einen glitzernden Sendepalast bezogen mit künstlicher Lagune vor der Haustür. Und eben erst ist hier der Nachrichtenkanal „al-Arabia“ auf Sendung gegangen, der eine weniger aufmüpfige Alternative zu al-Dschasira werden soll. Geld scheint dabei keine Rolle zu spielen: Es stammt von Investoren aus Saudi-Arabien, Kuwait und dem Libanon, die dem Sender aus Katar Zuschauer und Einfluß abjagen wollen.

Vor dem Krieg haben Jordanien und Kuwait Korrespondenten des Senders ausgewiesen

So sind am Golf paradoxe Enklaven der Pressefreiheit entstanden. Während die lokalen Medien der Emirate noch immer einer strikten Zensur unterliegen, garantieren die Herrscher den internationalen Medienunternehmen, die sich bei ihnen ansiedeln, weitgehende Unabhängigkeit. Steuerfreiheit, ein hoher Lebensstandard und die größere Nähe zum arabischen Publikum: Das sind die Anreize für arabische Medienunternehmen, ihren Sitz an den Persischen Golf zu verlegen.

Auch die Protektion durch die reichen Medienmäzene spielt eine Rolle: Immer wieder ist die Geschichte zu lesen, wie die US-Administration kurz nach den Anschlägen vom 11. September versucht hat, al-Dschasira mundtot – oder zumindest gefügiger – zu machen. Der Emir von Katar hatte sich damals schützend vor „seine“ Redaktion gestellt. Kurz nach den ersten Angriffen der Alliierten auf Afghanistan hatte der Sender eine Videobotschaft von Ussama Bin Laden ausgestrahlt. „Diese Kassette hatte damals hohen Nachrichtenwert, deswegen haben wir sie gesendet“, begründet Taisir Ajouli, der damals als einziger ausländischer Journalist aus Kabul berichtete und die Kasette zugespielt bekommen hatte, die Entscheidung.

Immer wieder hat al-Dschasira seitdem Botschaften von al-Qaida erhalten, und manchem seiner Korrespondenten werden enge Kontakte nachgesagt. Bei manchen steht al-Dschasira deswegen im Ruf, ein Sprachrohr radikaler Islamisten zu sein. „Ich bin Journalist“, verteidigt sich Ahmed Zaidan, der heute als Korrespondent in Islamabad arbeitet: „Da gehört es zu meinem Job, gute Kontakte zu haben.“ Bin Laden hatte ihn, nur wenige Monate vor den Anschlägen vom 11. September, zu einer privaten Feier nach Kandahar eingeladen. Gerade hat Zaidan ein Buch über seine Begegnung mit dem Terrorchef geschrieben. Seine Sympathien für dessen „Theologie der Befreiung“ sind dabei nicht zu überlesen, wenn er sich auch von Gewalt distanziert.

Der Krieg im Irak beschert al-Dschasira nun neue Aufmerksamkeit. Der Sender scheint die Rolle übernommen zu haben, die CNN im vergangenen Golfkrieg spielte. Dennoch schwankt die Stimmung in der Zentrale: „Ich habe Bedenken, was wohl von uns übrig bleibt, wenn der Irakkrieg erst einmal vorüber ist“, orakelte noch vor einigen Wochen ein leitender Redakteur. Er macht sich Sorgen, wie der Sender dem Druck der Amerikaner auf der einen und der Konkurrenz der neuen Sender auf der anderen Seite standhalten kann.

Zumindest bislang führt al-Dschasira im Medienwettlauf am Golf. Häufig sind die Fernsehbilder, die weltweit auf allen TV-Stationen laufen, mit dem Logo von al-Dschasira versehen. Selbst im Irak eilt dem Sender sein Ruf voraus – und das, obwohl die Iraker in ihrem Land gar kein Satelliten-TV empfangen können und dürfen.

Im umkämpften Basra, berichten die Reporter stolz von dort, freuten sich viele Menschen, wenn sie ein Kamerateam mit blauen T-Shirts und goldgestickten Emblem auf der Straße sähen. Manchmal führen sie die Reporter dann in ein Krankenhaus und zeigen ihnen die Verletzten, die Opfer des Krieges. Diese Bilder, die es nach dem Willen der koalierten Streitkräfte in diesem Krieg nicht geben sollte, sind nun das neue Markenzeichen des Nachrichtensenders al-Dschasira geworden.