Helden der Familie

Über den Umgang ostdeutscher Familien mit der nationalsozialistischen Vergangenheit ist schon ausgiebig spekuliert worden. Sabine Mollers neue Studie „Vielfache Vergangenheit“ ist eine der ersten soliden Untersuchungen zum Thema. Bislang wurde vermutet, der untergegangene „verordnete Antifaschismus“ der SED hätte zu einer weitgehenden Selbstentschuldung in den fünf neuen Bundesländern geführt. Sabine Moller widerspricht dieser Annahme deutlich.

Es sei vor allem die Zurückweisung des verordneten Antifaschismus, die viele Ostdeutsche heute dazu bewegt habe, „kritische Stellungnahmen zur NS-Vergangenheit ganz generell zu diskreditieren“. Da Ablehnung des Nationalsozialismus in den ostdeutschen Ländern mit dem verordneten Antifaschismus der SED gleichgesetzt wird, erfahren Haltungen, die den Nationalsozialismus rechtfertigen oder gar heroisieren, heute eine deutliche Aufwertung.

Die Untersuchung legt nahe, dass es unterhalb der öffentlichen antifaschistischen Bekenntnisse in der Ex-DDR ein „inoffizielles Gedächtnis“ gab, in dem sich – ähnlich wie in der alten Bundesrepublik – die Familien als Opfer des Nationalsozialismus stilisierten. Eine Anerkennung eigener Beteiligung oder zumindest Verantwortung für die Verbrechen wurde hier wie einst im Westen zurückgewiesen. Aus lange „tabuisierten Erinnerungsbeständen und systemkritischen Haltungen“ sei heute „eine zum Teil problematische Gemengelage hervorgegangen“.

Die von Sabine Moller vorgelegte Studie über den Umgang ostdeutscher Familien mit der nationalsozialistischen Vergangenheit ist Teil einer umfangreichen Mehrgenerationenstudie. Unter der Leitung von Professor Harald Welzer hatte in den 90er -Jahren ein Forscherteam, dem Frau Moller angehörte, den Umgang nichtjüdischer deutscher Familien mit dem Nationalsozialismus untersucht. In 182 Interviews wurden 142 Menschen aus 40 Familien in Ost- und Westdeutschland befragt. Besonderer Wert wurde darauf gelegt, die Weitergabe von Haltungen von der Zeitzeugengeneration (geboren zwischen 1906 und 1933) an die Generation der Kinder (geboren 1934 bis 1967) und an die der Enkel (geboren 1954 bis 1985) zu erforschen. Die Ergebnisse der Gesamtstudie wurden letztes Jahr unter dem Titel „Opa war kein Nazi“ publiziert.

Moller demonstriert in ihrer Teilstudie materialreich, dass es in ostdeutschen Familien nach dem Umbruch 1989/90 zu einem Bündnis der Zeitzeugen des Nationalsozialismus mit ihren Enkeln gekommen ist. Die Aufbaugeneration der DDR ist diskreditiert. Die Zeitzeugengeneration des Nationalsozialismus fühlt sich nach dem Umbruch 1989 ermuntert, ihre Selbstrechtfertigungen neu auszuschmücken. Die Enkel stimmen mit ihr meist in der Kritik des Antifaschismus überein.

Enkel und Zeitzeugen hantieren darüber hinaus gleichermaßen mit problematischen Gleichsetzungen der NS- und der DDR-Vergangenheit. Diese Aussagen lassen sich zwar einstweilen lediglich auf der Basis von Einzelfallanalysen belegen und bedürften erst noch der Absicherung, schränkt Sabine Moller ihre Aussagen vorsichtig ein. Es sei jedoch nicht auszuschließen, dass diesem Phänomen „bei der Durchsetzungsfähigkeit von rechtsextremem Gedankengut im Alltagsdiskurs eine gewisse Bedeutung“ zukomme.

Das innerfamiliäre Bündnis der Enkel mit den Zeitzeugen des Nationalsozialismus ist jedoch keine Besonderheit ostdeutscher Familien. Bereits in der 2002 publizierten Gesamtstudie konnten die Forscher einen ähnlichen Prozess im Westen beobachten. Hier spielte die Zurückweisung des Antifaschismus jedoch keine Rolle. Das Forscherteam beobachtete schlicht große Empathie der Enkel mit den Großeltern. Trotz umfangreicher Kenntnisse über Geschichte und Struktur des Nationalsozialismus nutzten die Enkel jede Gelegenheit, ihre Großeltern zu Opfern oder gar Widerständlern zu stilisieren.

Ohne die Kenntnis der Studien von Harald Welzer und Sabine Moller wird man künftig nicht mehr über die Auseinandersetzung der NS-Täter-Nachfolgegenerationen mit dem Nationalsozialismus diskutieren können. Die Befunde ihrer Studien kommen nicht ganz unerwartet, sie sind allerdings niederschmetternd.

MARTIN JANDER

Sabine Moller: „Vielfache Vergangenheit. Öffentliche Erinnerungskulturen und Familienerinnerungen an die NS-Zeit in Ostdeutschland“. Edition Diskord, Tübingen 2003, 240 Seiten, 15 Euro