Die Wiese als Untergang

Peter Crass ist Friedhofsgärtner. Was er an seinem Beruf mag? „Na, alles!“ Was ihm missfällt, ist die Befürchtung, die Friedhofskultur und sein Beruf könnten dereinst aussterben

VON CLAUDIA LEHNEN

Die Liegenschaft auf Lanzarote könnte ihm gefallen, fünfter Stock, mit Balkonkästen und garantiert ruhigen Nachbarn. Wenn Gäste kommen, können die an den bereitgestellten Leitern zu einem hochklettern und frische Blumen in die Kästen pflanzen. „Das ist prima“, sagt Peter Crass, und einen Moment mag der Nichteingeweihte grübeln, warum der 63-Jährige nicht schon längst seine Siebensachen gepackt hat und nach Lanzarote gezogen ist. Aber Peter Crass kann Berlin nicht verlassen. Er arbeitet auf dem Parkfriedhof in Lichterfelde. Und dort wird er bleiben – selbst wenn er tot ist und in eine der fünften Etagen der spanischen Friedhofshäuser umziehen könnte.

Peter Crass ist Friedhofsgärtner aus Passion, seit über vierzig Jahren. Mit dem Tod beschäftigt er sich täglich. Er berät Kunden, wie die letzte Ruhestätte ihrer Liebsten bepflanzt werden soll, schließt sich mit Steinmetzen kurz, gießt bis zu dreimal in der Woche über zweitausend Grabbepflanzungen auf dem Friedhof, stellt gegen Bezahlung zu Ehrentagen Blumen auf fremde Gräber. Crass mag seine Arbeit. Crass mag Friedhöfe und er mag die Vergangenheit. Die Zeit, in der alles noch besser war. Gerade auf den Friedhöfen.

Seine Augen sind in die diesige Ferne des Wintervormittags gerichtet. Dort draußen, hinter den blank geputzten Scheiben seines Büros, muss sie irgendwo sein, die alte Zeit, in der es noch um Gutmütigkeit ging und um Menschlichkeit. Als man seine Angehörigen noch anständig bestattete und der Buß- und Bettag noch ein Feiertag war. „Gibt’s alles nicht mehr“, sagt Crass, und sein Blick ist wieder hier, wieder im Büro, wieder in der Gegenwart. Er legt seine wettergebräunte Stirn in Falten und sieht plötzlich älter aus, als er ist.

Die Hälfte der zehn Hektar Friedhofsfläche, die er betreut, sei heute schon grablos, klagt er. Viele Menschen gingen „unter die Wiese“. Eine anonyme Bestattung ohne Grab auf dem hinteren Teil des Friedhofs sei billiger und weniger aufwändig. „Immer öfter kommen alte Menschen zu mir, die sagen: Ich kann meinen Kindern diese Grabpflege und die ganzen Kosten nicht zumuten.“ Crass legt seine Unterarme auf den Tisch und beugt sich ein wenig nach vorne. Die Haut an seinen Händen erinnert an trockenes Seidenpapier. Unter den langen, schmalen Nägeln klebt noch ein wenig Friedhofserde. Erde von Beeten, die davon zeugen, dass der Verstorbene einmal geliebt wurde.

„Gibt’s nicht mehr“ ist sein liebster Satz. Er kann ihn nach jeder Pause einfügen. Immer dann, wenn er wieder einmal suchend aus dem Fenster blickt. Wenn er verblüfft feststellt, dass seine Erinnerungen an früher und die Wirklichkeit heute zwei vollkommen unterschiedliche Dinge zu sein scheinen. Doch irgendwie hat sein Blick auf das Gestern im Laufe der Jahre an Schärfe verloren. Auch früher gab es diese Sozialgräber mit Efeu und schmucklosem Stein, alle identisch, alle lieblos.

Aber diesen Einwurf wischt Crass weg wie eine störende Schliere auf der sauber geputzten Scheibe. „Heute werden die Menschen einfach entsorgt. Vielleicht kommt bald der blaue Sack, wenn man stirbt. Rein damit und ab in den Müll. Vielleicht noch ein schwarzes Kreuz auf den Sack, und gut ist“, echauffiert er sich. „Bald wird es sein wie in Japan. Da kann man ein Grab im Internet anlegen und zum Jahrestag Blumen hinlegen.“ Alles per Mausklick, alles virtuell. Peter Crass will wütend sein, wütend, weil er den Untergang der Friedhofskultur kommen sieht, wütend, weil die Menschen sich gegenseitig nicht mehr würdigen, weil sie sich nach dem Tod schnell vergessen wollen. Aber Crass kann nicht wütend sein. Das feine Faltennetz um seine Augen glättet sich plötzlich, und nur noch Hilflosigkeit liegt in seinem grauen Blick.

Hilflos und bedrückt ist Crass nicht nur, weil er die Grabkultur vermisst. Heute muss ein Friedhofsgärtner rechnen. Wenn sich die Menschen „unter die Wiese legen“ – er spuckt diese Worte aus, als handle es sich dabei um ein Stück Schokoladensilberpapier, das nur durch Unachtsamkeit in seinen Mund geraten ist –, dann verdient der Friedhofsgärtner keinen Pfennig. Crass sagt immer noch „Pfennig“. Weil er den Euro nicht mag, weil seit dessen Einführung alles schlechter geworden sei. Auch die Abschaffung des Buß- und Bettags als nationaler Feiertag wurmt ihn aus finanziellen Gründen. „Früher haben wir von den Einnahmen an diesem Tag den gesamten Winter leben können. Heute kommt ja keiner mehr“, sagt er – und wird jetzt doch ein wenig wütend.

Die Regierung hat ihm den lukrativsten Tag im Jahr weggenommen, sie hat das Sterbegeld weggekürzt, und die Grünen-Abgeordnete Alice Ströver plädiert gar für die Aufhebung des Friedhofszwangs. Verstorbene könnten ihrer Meinung nach auch im heimischen Bücherregal die letzte Ruhestätte finden. „Das ist der Untergang der Friedhöfe“, prophezeit Crass. Gott sei Dank wollen aber noch nicht alle unter dem parkähnlichen Friedhofsteil ihre letzte Ruhe finden. Und die Asche der Oma auf dem Küchenbuffet ist auch nicht jedermanns Sache.

Es sind vor allem die Alten, die eine Grabkultur pflegen, wie Crass sie mag. Die schon Jahre vor ihrem Ableben monatlich für eine Dauergrabpflege einzahlen, damit sich nach ihrem Tod jemand um das Schneiden von Bodendeckern und das Gießen kümmert. Die eine letzte Ruhestätte wollen für ihren Angehörigen, die dem Verstorbenen gerecht wird. Bei diesen Kunden kann Crass seinen Drang zu Gutmütigkeit ausleben. Er pflanzt Tannenbäume, die „Papa mal aus dem Urlaub“ mitgebracht hat, verlegt eine Grabplatte, weil „sonst der Kopf meines Mannes ganz zugedeckt ist.“ Oder er überredet zur Zwangsfällung eines Mammutbaums. „Sonst kann in Omas Grab ja niemand mehr beerdigt werden. Da sind ja dann nur noch Wurzeln.“ Früher, als es noch Grabhügel gab, hat er einem efeubewachsenen Berg auf Wunsch oft noch ein bisschen Erde hinzugefügt. „Machen Sie den Hügel nicht so klein, mein Mann war ganz schön groß“, habe eine Witwe einmal gebeten.

Peter Crass hat sein Leben dem Tod gewidmet. Auch nach Feierabend legt er die Harke nicht aus der Hand. Nicht um in seinem Garten hübsche Beete anzulegen, sondern weil er wieder eine Idee für eine individuelle Grabbepflanzung hat. Seit zwanzig Jahren nimmt er mit seinem Sohn an den Grabgestaltungswettbewerben der Internationalen Gartenbauausstellung teil. Letzten Sommer hat sich die Mühe endlich ausgezahlt. Für ihr Seemannsgrab mit Ufergras, in Wellen angelegten blauen Blumen und einem weißen Muschelmeer gewannen Vater und Sohn eine Goldmedaille. „Zwanzig Jahre habe ich auf diese Auszeichnung hingearbeitet“, sagt Crass und präsentiert stolz die runde Edelmetallplakette in der Vitrine.

Die Unzufriedenheit hat sich aus dem Gesicht des gelernten Blumen- und Zierpflanzengärtners gestohlen. Seine Wangen sind rosig, sein Gesicht sieht aus, wie ein Gesicht eben aussehen muss, wenn es den ganzen Tag an der frischen Luft ist. Wenn er an seinem Arbeitsplatz auch häufig über das Sterben nachdenkt, so gibt es manchmal doch Momente, die ihn daran erinnern, dass auch das Leben nicht zu kurz kommen darf. Gerade steht so ein Moment bevor. Draußen, hinter dem Gewächshaus, sieht man einen kleinen Gärtner hervorlugen. Peter Crass’ Enkelsohn trägt grünes Strick – genau wie sein Vater und sein Großvater. Er ist gekommen, um auf dem grünen Gießfahrzeug mitzufahren, sein Gesicht glüht vor Aufregung.

CLAUDIA LEHNEN, freie Autorin in Köln, ist mit 25 noch zu jung, um in eine Dauergrabpflege zu investieren. Das geht erst ab vierzig