Grönland wird größer

Hier die soziale Kälte, dort der Sozialstaat als Wärmestube: Der Literaturprofessor Helmut Lethen hielt in der Stadtbibliothek einen Vortrag über die „Zeit der Kälte“

Kein eisiger Blick unter dem Strubbelhaar – es fällt schwer, sich den Rostocker Literaturprofessor Helmut Lethen als kalte Person vorzustellen. Tastend wägt er jeden Gedanken zweimal, oft fällt er sich selbst ins Wort. Dieser Mann kann eigentlich kein Ideologe sein. Und doch stand der 68er Helmut Lethen einmal auf den Barrikaden: An der FU war er einer der tonangebenden Köpfe der Roten Zelle Germanistik (RoZeGe), während der Revolte vor allem damit beschäftigt, die kaum verständliche Hegelei des Genossen Hartung in prägnante Parolen zu übersetzen. „Schlagt die Germanisten tot / Malt die blaue Blume rot.“ Sein Weg in den Siebzigerjahren führte durch die K-Gruppen, er kostümierte sich und legte den Verhaltenspanzer der Zweiten Internationalen an. Rückblickend sieht er im „roten Jahrzehnt“ (Koenen) mit seinen Stellungskämpfen und Tribunalen eine Kühlmaschine, die die überhitzten Leidenschaften zum Erkalten brachte – ein Zivilisierungsprojekt.

Die „Gesellschaft für deutsche Sprache“ lud ihn nun zu einem Vortrag über die „Zeit der Kälte“ in die Berliner Stadtbibliothek. 1994 hat er ein Buch über die „Verhaltenslehren der Kälte“ veröffentlicht, ein schmales orangenes Suhrkamp-Bändchen, das schnell als Geheimtipp kursierte. Da konnte es schon überraschen, dass kaum einer den Kältelehrer hören wollte. Lag es an dem holzgetäfelten Ort mit wenig Szenequalität, dass die Zuhörer an zwei Fingern abzählbar waren? Oder badete die Generation Golf gerade wieder lau?

Wer sich in die Stadtbibliothek aufgemacht hat, sollte es nicht bereuen. Am Beginn des Diavortrages stand Caspar David Friedrichs „Eismeer“, das Zeitgenossen als Allegorie auf das bevorstehende Ende lasen. „Kälte“ hatte im 19. Jahrhundert einen schweren Stand, sie war eine Metapher für Rationalisierung und Entfremdung. Weit verbreitet war die Furcht, Grönland könne sich ausdehnen. Diesen negativen Kältediskurs des 19. Jahrhunderts kontrastierte Lethen mit den Kälteoden der Avantgarden der Zwischenkriegszeit: „Lobet die Kälte, die Finsternis und das Verderben“, heißt es in Brechts Hauspostille, und Ernst Jünger feiert die Eiszeit als „Lehrmeisterin der Menschheit“. Die Extreme berühren sich, in den Zwanzigern herrscht fröhliches border surfing. Im Visier der selbst ernannten Polarforscher steht das bürgerliche coach potato Thomas Mann. Heraus aus der überhitzten Bürgerhöhle, heißt die heiß laufende avantgardistische Parole der Zeit.

Lethen zeigte nun an Karikaturen aus der Tagespresse, dass die „Kältefolklore“ in der politischen Rhetorik auch in der heutigen Zeit allüberall präsent ist. Vor der sozialen Kälte warnen die einen, den Auszug aus der Wärmestube Sozialstaat fordern die anderen. Mal abgesehen von Ulf Poschardt, der vor einiger Zeit in einem ambitionierten Buch weiträumig den Begriff „cool“ untersuchte, scheint es im Alten Europa nur wenige echte Kältefreaks zu geben. Vor wenigen Tagen meldete die New York Times, dass Teile Amerikas vor der Vergletscherung stehen. Mag nun ein neuer Weltuntergang wieder einmal bevorstehen – erst einmal erscheinen Helmut Lethens „Verhaltenslehren“ in der amerikanischen Übersetzung unter dem Titel „Cool Conduct“.

STEPHAN SCHLAK