Nass und trüb ist die Welt

Nach dem Niedergang der Götter verwahrlosen die Menschen: „Hölderlin. Eine Expedition“ heißt eine neue Oper des Komponisten Peter Ruczicka, der nicht nur ihr Librettist, sondern auch ihr Thema abhandenkam. An der Berliner Staatsoper

Beiläufig kommt es zu einem Mord, weil laute Musik eine junge Frau stört

VON FRIEDER REININGHAUS

Unter Expeditionen werden Forschungsreisen in unerforschte Regionen verstanden, auch militärische Interventionen und Versandabteilungen von Wirtschaftsunternehmen. Kriegerische Abenteuer oder Export von Wirtschaftsgütern dürften Peter Mussbach und Peter Ruzicka freilich nicht im Sinn gehabt haben, als sie den klangvollen Namen Hölderlins nutzten, um eine literarisch-musikalische „Entdeckungsreise“ zu konzipieren. Mit „Hölderlin. Eine Expedition“ ging ihre Reise in eine „unbestimmte Zukunft“ der altgriechischen Götter, zu „beschädigtem Leben“ einer unscharf umrissenen Menschengruppe und schließlich in einen extraterrestrischen Raum.

Nach dem Erfolg einer Oper über die Biografie des Dichters Paul Celan 2001 in Dresden entschloss sich das Autoren-Duo Ruzicka/Mussbach zu einem Folgeprojekt. Der selbst auch dirigierende Komponist verlängerte seinen Vertrag als Intendant der Salzburger Festspiele nicht, um sich auf die Partitur von „Hölderlin. Eine Expedition“ konzentrieren zu können. Mussbach erteilte sich, damals noch als Intendant der Berliner Staatsoper, selbst den Auftrag, als Librettist tätig zu werden und sich dem schwäbischen Dichter auf zeitgemäße Weise zu „nähern“.

Wie schön. Seit dem späten 18. Jahrhundert haben Gedichte wie „Stille“, „An Diotima“, „Empedokles“, „Hälfte des Lebens“, das „Schicksalslied“ und vor allem der Briefroman „Hyperion“ einen sich immer wieder neu rekrutierenden Verehrerkreis. Die in der Götterwelt des philologisch wiedererweckten griechischen Altertums wurzelnden Metaphern, die exaltierte Kunstsprache Hölderlins war im Kulturbetrieb stets – und gerade auch in der Nazizeit – präsent: „Wo bist du, Jugendliches!“ – „Wo bist du, Nachdenkliches!“ Größeren Bekanntheitsgrad erlangten leicht überspannte Sentenzen zu Geist und Größe eines Volkes oder auch die gern vorm Hintergrund der Begeisterung für die Französische Revolution gelesene Aufforderung „Komm! Ins Offene, Freund!“. Die Hölderlin-Rezeption mit all ihren Kapriolen wäre fürwahr ein weites und ergiebiges Feld für eine Exkursion gewesen.

Doch das weithin triste, in geistiger Verwirrung verdämmernde Leben von Friedrich Hölderlin (1770–1843) interessierte den Librettisten Mussbach so wenig wie die Hölderlin-Moden. Selbst den hochtönenden exzentrischen Gedichten wies er nur eine marginale Rolle zu. Der im Mai 2008 aus dem Amt des Staatsopernintendanten gedrängte Psychiater und Regisseur plünderte seinen Zettelkasten, in dem sich auch Zitate von Walter Benjamin, Paolo Coelho, Friedrich Nietzsche, Thomas Nipperdey und anderen klugen Köpfen befanden.

Dazu ließ er sich „aktuelle“ Dialoge einfallen. Da gibt es, aufgeteilt auf 13 Stimmen, „Aufschrei der Leiber“, einen stöhnenden „Wichser“ und eine Sie, die „in heißem Begehren“ fordert: „Fick mich, wer auch immer!“

Im Rahmen eines Rückblicks auf die nach dem Niedergang der Götter verwahrlosten Menschen kommt es beiläufig zu einem Tötungsdelikt, weil eine junge Frau den zu lauten Musikkonsum ihrer Kumpel kritisiert. Insgesamt ergibt die Sammlung des heterogenen Materials, von Mussbach fahrig kompiliert, bestenfalls den Fahrplan zu einem Ausflug an einen umgekippten Wörtersee.

Den betönte Ruzicka auf die bereits bei „Celan“ probate Weise und mit Mitteln, die aus den verschiedensten Zonen des 20. Jahrhunderts stammen: Die Vokal-Partien, die gelegentlich an Gustav Mahler erinnern, erheben sich über heftigen Bläser-Stößen, Schlagzeug-Akzenten und sattem Streicher-Sound. Dort, wo sich die Stimmen chorisch verdichten, entwickelt die Musik ihre intensivsten Momente. Schließlich gleitet sie in eine lange ausgezogene, im Unisono sich quälende Streicher-Linie aus: So mag sie das Hinausgleiten in einen jenseitigen Raum vor Ohren führen.

Der Regisseur Torsten Fischer und sein Bühnenbildner Herbert Schäfer haben aus dem Textkonglomerat und seiner nur wenig prickelnden Musik-Unterfütterung das denkbar Beste gemacht. Fischer half dem Unternehmen durch zusätzliche Hölderlin-Zitate auf philologisch solidere Beine und strich einige ordinäre Vokabeln. Mussbach sieht dadurch seine Urheberrechte verletzt und behält sich juristische Schritte vor.

Bespielt wird vor allem eine große Pfütze, deren bewegter Wasserspiegel sich raffiniert auf Folien spiegelt: Wie gefordert, konstituiert sich so ein höchst irrealer Raum in undefinierter Zeit.

Freilich kann auch dieser optische Kunstgriff die grenzenlose Unverbindlichkeit und Verquastheit des Projekts nicht ins Gegenteil kehren. Die Premiere fand, trotz der erkennbaren Webfehler im Grundstoff, freundlichen Zuspruch. Obwohl doch der von den Veranstaltern versprochene experimentelle Charakter der Expedition nicht hörbar wurde.

Wieder am 21./25. + 29. November