Ein neues Ziel für den Protest

Die Friedensbewegung muss sich weltweit für eine „Uniting for peace“-Resolution der UN-Vollversammlung stark machen. Nur mit ihr kann man jetzt noch den Krieg stoppen

Wir erleben nun jenes „worst case“-Szenario, vor dem die Friedensbewegung immer gewarnt hat

Der 20. März wird in die Geschichte eingehen. Denn an diesem Tag begannen die USA erstmals, ihren imperialen Anspruch auf die Kontrolle des gesamten Nahen Ostens mittels eines präventiven und völkerrechtswidrigen Angriffskrieges durchzusetzen. Die Abscheu und die grenzenlose Empörung über die angloamerikanische Invasion des Iraks lässt seitdem täglich hunderttausende gegen den Krieg protestieren – in Amman, Berlin, Damaskus, Paris und Mexiko-Stadt ebenso wie in London, Sydney, New York, San Francisco und Washington.

Während es niemanden verwundert, dass in den arabischen Ländern die Menschen ihrer ohnmächtigen Wut Luft machen, hat die Fortsetzung und sogar Intensivierung der Proteste in den USA die Kommentatoren überrascht. Allgemein wurde erwartet, dass die lange Serie von Demonstrationen und Aktionen in den USA zu einem raschen Ende kommen würde, sobald der Krieg beginnt. In der Vergangenheit scharten sich bisher im Kriegsfall auch die Gegner hinter dem Präsidenten zusammen. Dass dem diesmal nicht so ist, stellt nur eines von vielen Indizien dar, dass die Friedensbewegung in ihrer nie dagewesenen Stärke doch nicht so erfolglos und erst recht nicht folgenlos ist, wie es jetzt vielen erscheinen mag.

Zugegeben, wir konnten diesen Krieg nicht verhindern. Damit stehen das Ziel der Friedensbewegung und die Realität in einem Widerspruch, der scheinbar nur in der Schlussfolgerung des Versagens aufgelöst werden kann. Obwohl auf den ersten Blick einleuchtend, ist diese Schlussfolgerung falsch. Um dagegen den Einfluss der Friedensbewegung zu verstehen, müssen wir uns vorstellen, wie sich der Irakkonflikt wohl ohne die Aktionen der Bewegung entfaltet hätte. Ohne sie hätte Bush wahrscheinlich nicht versucht, ein UN-Mandat zu erlangen, und nicht den Weg für die Rückkehr der Waffeninspektoren frei gemacht.

Seine Hoffnung, eine UN-Resolution für eine Invasion zu erkaufen, zerschlug sich, weil die weltweite Ablehnung eines Irakkrieges, wie sie insbesondere bei den Demonstrationen am 15. Februar deutlich wurde, die dazu nötige Mehrheit im Sicherheitsrat verhindert hat. Ohne den Druck insbesondere der deutschen und französischen Friedensbewegung hätten Schröder und Chirac womöglich nachgegeben und der Irakkrieg würde heute unter einem von den USA erpressten UN-Mandat geführt.

Aber auch die langfristigen Implikationen des Protests sollten nicht gering schätzt werden: Die weltweite Friedensbewegung trägt dazu bei, dass die Hürde für zukünftige Militärschläge weit höher liegt. Die Pläne der neokonservativen Hardliner im Weißen Haus sind damit durchkreuzt.

Wir erleben zurzeit den Beginn jenes „worst case“-Szenarios, vor dem die Friedensbewegung immer gewarnt hat. Vieles deutet darauf hin, dass die Kampfhandlungen noch für Wochen oder gar Monate weitergehen werden. Die aktuelle Zahl der Toten und Verletzen wäre dann nur der traurige Vorgeschmack auf eine weit größere menschliche Tragödie. Die ungeminderten Proteste der Friedensbewegung sind daher zwar begrüßenswert, doch braucht der Protest neue politische Ansatzpunkte, die über ein bloßes „Nein zum Krieg“ hinausreichen. Auch wenn es einigen vielleicht als utopisch erscheinen mag, wir glauben, dass es noch eine Chance gibt, diesen Krieg zu stoppen.

Der Schlüssel zu diesem Unterfangen liegt in einer Resolution der Generalversammlung der Vereinten Nationen, an die kürzlich auch taz-Korrespondent Andreas Zumach (taz v. 12. 3. 2003, S. 3) erinnerte: Die als „Uniting for peace“ bekannte Resolution wurde 1950 auf Druck der USA verabschiedet, um ein Veto der Sowjetunion im Korea-Konflikt im Sicherheitsrat zu umgehen. Die UN-Resolution 377 erlaubt der Generalversammlung, gemeinsame Empfehlungen abzugeben, wenn der Sicherheitsrat wegen fehlender Einstimmigkeit der Veto-Mächte nicht seine primäre Verantwortung wahrnimmt, international für Frieden und Sicherheit zu sorgen.

Zudem ist in der Resolution festgehalten, dass die UNO auch nach Ausbruch von militärischen Konflikten einen sofortigen Waffenstillstand und den Abzug von Truppen verlangen kann. Im Jahr 1965 marschierten Frankreich, Großbritannien und Israel in Ägypten ein, weil es den Suezkanal verstaatlicht hatte. Ein US-amerikanischer Resolutionsentwurf, der diese Invasion verurteilte, wurde im Sicherheitsrat von Frankreich und Großbritannien blockiert. Daraufhin wandten sich die USA mit einer entsprechenden Resolution an die Generalversammlung, die dieser zustimmte. Innerhalb einer Woche zogen sich Frankreich und Großbritannien aus Ägypten zurück.

Wie sind die Erfolgschancen für eine Resolution, die das sofortige Ende der Kampfhandlungen und einen Abzug der US-amerikanischen und britischen Truppen aus dem Irak verlangt? Bislang hat sich zwar noch keine tragfähige internationale Koalition von Staaten geformt, die bereit wäre, in der Generalversammlung eine solche Resolution einzubringen, aber das Potenzial dafür ist vorhanden. Wie das Washingtoner Institut für Politikstudien (IPS) dokumentiert hat, umfasst die so genannte „Coalition of the willing“ gerade mal 46 der 191 UN-Mitgliedsstaaten. Ganz zu schweigen davon, dass selbst in diesen Staaten die öffentliche Meinung überwiegend gegen den Irakkrieg ist.

Wie sehr die USA eine derartige Resolution der Vollversammlung fürchten, lässt sich daran ablesen, dass die USA hinter den Kulissen bereits massive Drohungen gegen Länder ausgesprochen haben, die sie verdächtigen, eine solche Initiative zu unterstützen. Und selbst wenn die Resolution, sollte es wirklich zu ihr kommen, ihre beabsichtige Wirkung verfehlt, war sie nicht umsonst. Sie würde die politischen Kosten dieses Krieges erheblich in die Höhe treiben und gemeinsam mit den Protesten der Friedensbewegung dazu beitragen, dass die Doktrin der präventiven Kriege nicht auf weitere „Schurkenstaaten“ übertragen werden kann.

Die globale Friedensbewegung trägt dazu bei, dass die Hürde für künftige Militärschläge weit höher liegt

Zu einer „Uniting for peace“-Resolution kann und wird es aber nur kommen, wenn die Friedensbewegung in Deutschland und im Rest der Welt ihre Energien auf diese Forderung konzentriert. IPPNW, Greenpeace International und die internationale Frauenbewegung haben sich ebenso wie viele arabische Staaten diese Forderung bereits zu Eigen gemacht.

Mit einer solchen Fokussierung würde die Friedensbewegung in Deutschland zudem die rot-grüne Bundesregierung auf die Probe stellen. Diese ist gefordert, eine entsprechende Resolution – möglichst gemeinsam mit anderen Staaten – in die UN-Vollversammlung einzubringen und in einem diplomatischen Kraftakt möglichst viele Regierungen zu einer Zustimmung zu bewegen. Sollte sich die Bundesregierung gegenüber diesem Vorschlag ähnlich stur stellen wie bei der gegenwärtigen Diskussion über Awacs-Einsätze und Überflugrechte, dürfte die Schonfrist, die Schröder und Fischer derzeit bei Gewerkschaften, Kirchen und Umweltverbänden noch genießen, endgültig abgelaufen sein.

FELIX KOLB/CHRISTOPH BAUTZ