Ein klarer Sonderfall

Ohne Z wird dem Zeisig bekanntlich bitterkalt und eisig: Michael Lentz’ Gedichtband „Aller Ding“ macht Spaß

Einigermaßen überrascht war man, als der ausgewiesene Avantgardist und Lautpoet Michael Lentz vor zwei Jahren mit einem relativ konventionell erzählten Text in Klagenfurt auftrat und den Ingeborg-Bachmann-Preis gewann. Dass diese Erzählung so konventionell nun doch wieder nicht geschrieben war, konnte man kurz darauf im Band „muttersterben“ nachlesen. Jetzt hat Lentz einen Gedichtband vorgelegt, bei dem sich ein ähnlicher Effekt einstellt.

„im regen eine zurückgebliebene leiche/ eine hinzugelaufene katze/ ein offenes fenster noch/ und wir/ die alles zu ordnen/ wissen“ – ein „bruchstück“ aus der Abteilung „Gedichtete Gedichte“. Ist das Ironie? Wirft da jemand aus dem linken Hemdsärmel ein paar Gedichte aufs Papier, von denen er weiß, dass sie so ungefähr dem entsprechen, was man gemeinhin von Gedichten erwartet, nämlich ein paar komprimierte Bilder mit sinnreicher Pointe? Eher nicht. Von diesen scheinbar leichthinnigen, doch abgründigen Miniaturen finden sich noch weitere in diesem Band. Auch schlicht Gereimtes stellt sich ein wie Amsel, Drossel, Fink und Star als kleine Vogelkunde in Merkversen: „doch im gesang die nachtigall/ die ist ein klarer sonderfall/ denn ohne ‚zett‘ da wird’s dem zeisig/ bitterkalt und eisig“.

Dazwischen ein paar poetische Readymades, Fundstücke, die sich der Jäger und Sammler beim Spazierengehen ins Notizbuch steckt, schmerzensschöne Liebesgedichte, Kalauer und immer mal wieder ein kleiner Sinnspruch aus dem Handbuch für professionelle Verzweiflung: „Und das schlimmste/ was man haben kann/ ist Hoffnung“. Ist das noch der strenge Materialartist, der Extremperformer Lentz? Sicher doch. „’ne hauptrolle/ kann jeder spielen/ aber mal so einen statisten/ hinkriegen/ oder in einem hundsgewöhnlichen/ bürosessel lehnen“.

Zur Beruhigung: Auch der „eigentliche“ Lentz findet statt. Raffinierte Wortlisten, formale Versuchsanordnungen und Spielereien, mal mehr, mal weniger originell, punktgenau beschnittene Einzeiler und einige ganz wunderbare Anagramme. Allein die vielstrophige „Erzählung“ über Dieter Schnebel wäre schon einen kleinen Sonderdruck wert gewesen: „Belichtender. Es/ eilt. Brechendes/ Teil, Brechendes/ brechend, teil es/ brechend, leiste/ brechend Eitles.“

Hier kommt endlich sehr eindrucksvoll der Lautpoet zu Wort. Er pendelt zwischen Panizza und Pastior und klopft sich gelegentlich auf die Schenkel, etwa wenn auf einer ansonsten völlig leeren Seite die Phrase von der „epischen breite“ in mikroskopisch kleiner schrift geschrieben steht.

Dieser Band macht Spaß, weil er so viele unterschiedliche Formen, Schreibhaltungen und Stimmlagen versammelt, als wolle er sagen: Wen interessiert’s, wie ein gutes Gedicht auszusehen hat? Es zählt, was ein gutes Gedicht alles kann. Was ist eine normative Poetik gegen die Vielfalt der Möglichkeiten? Aber der Band ermüdet auch, weil unser „Aller Ding“ – eben die Sprache – auf 200 Seiten manchmal allerlei Beliebiges bedeuten kann. Glücklicherweise muss man einen Gedichtband ja nicht am Stück lesen. Man kann zwischendurch andere Dinge tun: „schlafengehen/ kommt vor poesie“. NICOLAI KOBUS

Michael Lentz: „Aller Ding. Gedichte“. S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2003, 192 Seiten, 19,90 €