„Sie ist meine Frau“

Auf dem Edelstahltisch liegt eine tote, nackte Frau. Ihr Mann Sulejman und die Tochter Fatma sind gekommen, die Tote vor ihrer Beisetzung zu waschen. Eigentlich, nach den Gesetzen des Korans, dürften die beiden gar nicht hier sein

von SEAD HUSIC

Die schwere Tür mit einem Bullauge wird aufgestoßen, und ein Mann tritt in den dunklen Raum ein. Er tastet nach dem Lichtschalter, der rechts neben der Tür angebracht ist. Er drückt auf den Schalter. Das Klicken der Neonlichter ist zu hören, es wird hell und die Neonröhren surren. Der Mann, der den Raum betritt, heißt Suljo. „Es ist, als ob der Tod mir undeutliche Dinge ins Ohr flüstert. Es ist, als ob er durch mich hindurchweht“, sagt er. Suljo steht jetzt vor dem Edelstahltisch, auf dem eine tote, nackte Frau liegt. Es ist seine Frau. Sie hieß Zumra.

Suljo steht da in einem grünen Kittel, der fast bis zum Boden dieses weiß gefliesten, stillen Raumes reicht, in dem es fünf Grad Celsius kalt ist. Suljo ist ein fast zwei Meter großer Mann. Suljo, der eigentlich Sulejman heißt, den aber alle, die ihn kennen, nur Suljo nennen, außer seiner Frau, die ihn immer Sulejman nannte. „Ihr gefiel das besser“, wird Suljo später sagen. Seine kurzen weißen Haare bilden einen Kranz um seinen runden Kopf. Auf seiner Stirn, über den braunen Augen, sieht man tiefe Falten, sein Gesicht ist frisch rasiert. Sulejman blickt auf Zumra. Sie ist zu früh gestorben. Die Neonröhren erhellen den Sektionsraum im Keller eines Berliner Krankenhauses. Die schwere Stahltür mit dem Bullauge ist jetzt geschlossen.

Sulejman ist nur eine Armeslänge von Zumra entfernt. Dann kommt eine Frau in den Raum. Sie legt ein weißes Leintuch auf einen Tisch, der an der weißen Wand steht. Die Frau ist Suljos Tochter. Sie trägt ein dunkelgrünes Kopftuch, das ihre dunkelblonden Haare verdeckt. Sie geht auf die andere Seite des Metalltisches, auf dem ihre Mutter liegt. Auch Fatma hat einen grünen Kittel an. Bei ihr schleift er über den Boden. Grün ist die Farbe des Islam. Leise betet sie eine Koransure. „Bismila irahman irahim …“ Es ist das Totengebet. Fatma hält dabei die Hände so vor sich, als ob sie das Gebet aus dem Koran liest. Man hört nur das Surren der Neonlichter, Fatmas leises Gebet und Wasser, wie es aus einem Schwamm gedrückt wird. Die Kälte dringt durch die Kleidung.

Sulejman steht jetzt an dem weißen Waschbecken mit der dünnen schwarzen Umrandung, in dem er vorher eine Waschlotion mit Wasser gemischt hat. Er taucht diesen gelben Schwamm unter, der so groß wie ein Backsteinziegel ist. Dann drückt er ihn über dem Becken aus. Zwei, drei Mal. Das Wasser plätschert. Dann macht er drei langsame Schritte auf Zumra zu. Er atmet tief ein. Der Schwamm streicht über den Körper seiner Frau. Zumras Schädel ist kahl. Das sind die Folgen der Chemotherapie. Zumra hat nicht mal mehr Augenbrauen. Auf der Brust zeugen Narben vom schweren Kampf, den Zumra gegen den Krebs führte. Ihre Haut ist ganz weiß. Schaumwasser rinnt über ihren Bauch.

Fatma flüstert die Koransuren auf Arabisch. „Mögest du in den Himmel fahren.“ Mit dem Kopftuch wirkt sie mädchenhaft. Dabei hat sie selbst einen sechzehn Jahre alten Sohn. Sie ist blass, und ihre Lippen sind fahl. Ihre braunen Augen blicken in die Hände, blicken in das unsichtbare Buch. Eigentlich dürften Fatma und Sulejman gar nicht hier sein. Nicht nach den Gesetzen des Islam und nicht nach den Vorschriften dieses Krankenhauses.

Für Verstorbene muslimischen Glaubens gibt es in Deutschland Beerdigungsinstitute mit professionellen muslimischen Wäschern. Der Hodscha, ein muslimischer Geistlicher, hatte zu Sulejman gesagt, er dürfe seine Frau nicht waschen, denn dann trete sie die Reise in die andere Welt unrein an. Frauen müssen von Frauen gereinigt werden vor der Beerdigung. Männerhände sollen sie nicht mehr berühren, erklärte der Geistliche. So will es Allah.

Aber Sulejman, der bosnischer Moslem ist, glaubt das nicht. Er sagte dem Hodscha, sie sei seine Frau. Und es sei ihr Wunsch gewesen, von ihm das letzte Mal berührt zu werden. Er habe sie gekannt, seit er fünfzehn Jahre alt war. Sie war zwei Jahre jünger und lebte in seinem Dorf, das Brka heißt. Mit siebzehn habe er sie das erste Mal auf den Mund geküsst. Auch das war eine Sünde. Und als sie im Alter von sechzehn einen anderen heiraten sollte, weil ihr Vater das so vereinbart hatte, da brannte er mit dem Mädchen durch. Gegen den Willen seiner Eltern.

Sie lebten einige Zeit bei Verwandten, dann kamen sie nach Deutschland. In das für sie gelobte Land. Das war 1969. Mit achtzehn Jahren heiratete Zumra ihren Sulejman auf einem Berliner Standesamt. 36 Jahre lebten sie zusammen. Sulejman erinnert sich, wie er manchmal seinen Kopf auf ihren Bauch legte und sie ihm mit der Hand durch das, wie sie fand, zu früh ergraute, kurze Haar strich, und im Scherz sagte sie: „Dein Kopf ist so groß wie eine Wassermelone.“ Und er feixte zurück: „Und dein Bauch ist jedes Mal ein bisschen besser gepolstert, wenn ich meinen Kopf darauflege.“

Jetzt liegt sie ganz schlank vor ihm. Er wäscht ihre Hände. Danach reinigt er ihr Geschlecht und wieder die Hände. Dann wäscht er ihr Gesicht, den Mund, die Nase, die Arme. Alles wäscht er drei Mal, wie es bei der Totenwaschung vorgeschrieben ist. Er hebt sie an, um den Rücken zu waschen. Alle Stellen müssen gereinigt werden, von all den bösen Dingen, die ihr angetan wurden. Von all den Sünden muss sie gereinigt werden, die sie beging. Sulejman hebt den Kopf an. Vorsichtig. Die Neonlichter surren. Nun geht er um den Tisch herum, um die linke Seite zu waschen. Fatma tritt einen Schritt zurück, ohne ihren Vater anzusehen. Wenn sie sich anschauten oder sich berührten, dann könnten sie die Spannung nicht mehr aushalten. Dann würden sie zusammenbrechen. Das dürfen sie nicht. Vor allem Fatma nicht, allein schon wegen ihres Vaters. Fatma ist Stationsschwester in diesem Krankenhaus und bat den Leiter des Hauses um diese Ausnahme für sich und ihren Vater.

Sulejman hat sich nicht an die Gesetze des Islam gehalten. Er sagte zum Hodscha nur: „Sie ist meine Frau.“ Fatma weint nicht. „Man soll den Toten nicht überlaut nachtrauern“, heißt es im Koran. Der Tod eines Menschen soll gefasst ertragen werden. Fatma trägt eigentlich kein Kopftuch. Auch ihre Mutter trug keines, bis, ja bis die Krankheit kam und ihr wegen der Chemotherapie Nachts die dunklen Haare mit den grauen Strähnen büschelweise ausfielen. Wegen des Kopftuches dachten die Nachbarn, sie sei nun gläubig geworden. Sulejman hat eben noch die Füße, jeden Zeh mit dem Schwamm gewaschen. Drei Mal.

Er legt den Schwamm auf das kleine Gitter am Waschbecken und macht wieder drei Schritte zu dem Edelstahltisch. Dann gibt ihm Fatma ein weißes Leintuch in die Hände. Und Suljo wickelt das Tuch um den Körper seiner Frau. Als er fertig ist, hängen Suljos Arme herunter. Die großen Hände wissen nicht mehr, was sie noch tun können. „Sprich noch eine Sure, Vater, egal welche, jede ist gut für sie“, sagt Fatma. Seine Lippen bewegen sich, aber kein Ton kommt aus seinem Mund. In den Augen sammeln sich Tränen, die nicht fließen dürfen, sein Kinn zittert und Fatma schaut schnell auf die weißen Fliesen am Boden. Sulejman dreht sich um und geht zur Tür mit dem Bullauge. Mit einem Ruck öffnet er sie. Er dreht sich nach seiner Frau nicht mehr um. „Du sollst dich nicht nach den Toten umdrehen“, sagen die Bosnier. Fatma spricht noch die letzten Worte des Gebets. Sie geht zum Schalter neben der Tür und drückt darauf. Die Neonlichter klicken ein paar Mal, das Surren verstummt. Dann ist es dunkel.

SEAD HUSIC, 1974 als Sohn bosnischer Muslime in Deutschland geboren, lebt als freier Autor in Berlin