Mehr als tausendundeine Nacht

Das Theater als Auffanglager: In „Le Dernier Caravansérail (Odyssées)“ hat sich Ariane Mnouchkines Théâtre du Soleil den Sans-papiers gewidmet

„Das Leben ist wie eine Karawane“, sagt ein alter Mann, der sich in Ariane Mnouchkines Théâtre du Soleil an eine Rast auf der Landstraße in Bosnien erinnert, und weil er ein Optimist ist, fügt er hinzu: „Und alle Karawanen führen nach Rom.“ Erst mal führten sie realistischerweise nach Brindisi in seinem Fall, in andern Fällen ins französische Sangatte oder in ein australisches Auffanglager. Dahin ist auch das Théâtre du Soleil gegangen und hat mit Migranten gesprochen. Aus Gesprächsnotizen und Tonaufzeichnungen hat die Truppe zusammen mit Autorin Hélène Cixous improvisierte Szenen erarbeitet, in denen sie nun die Erzählungen von stürmischen Überfahrten an der kirgisisch-kasachischen Grenze, von Liebesabenden in Teheran, die im Terror enden, oder auch nur vom blühenden Obstgarten des Großvaters in Kabul auf der Bühne wiedererzählt.

„Le Dernier Caravansérail (Odyssées)“, von der Ruhrtriennale mitproduziert, ist ein kollektives Werk und wird als kollektives Werk zelebriert. Das fängt damit an, dass Regisseurin Ariane Mnouchkine ihren Namen nur im Alphabet der Künstler aufführt und auf dem Plakat nicht erscheint. Dennoch ist sie es, die das Thema vorgegeben hat, das mit dem Irakkrieg nochmal aktueller wurde, und die dem Projekt unübersehbar ihren ästhetischen Stempel aufgedrückt hat. Sie, die seit Jahrzehnten nicht nur mit exilierten Tibetern, Kurden, Afghanen, Algeriern oder Südamerikanern arbeitet, sondern auch Sans-papiers in ihren Theaterräumen Unterkunft gibt. Die seit je nicht nur französische Volkstheatertraditionen und Spielweisen der Commedia dell’Arte belebt, sondern auch nach Theatertechniken wie dem japanischen Bunraku- oder Nô-Theater ausschaut.

Wenn der Besucher zwischen Regengüssen und Sonne eines kapriziösen Aprilabends in der alten Munitionsfabrik von Vincennes ankommt, steht sie als sicherer Wert wie eh und je am Eingang und reißt die Karten ab. Die Truppe des Théâtre du Soleil zelebriert Theater als gemeinsame Lebensform, und eine Aufführung in der Cartoucherie zu besuchen heißt immer auch, in eine ganze Welt einzutauchen. Das bedeutet nicht nur, dass alle den gleichen Lohn beziehen, es bedeutet zum Beispiel auch, dass der Musiker am Herd steht und Mama Africa, die eben noch mit dem Handy unterm Baobab saß und im fernen Frankreich Geld anforderte, nach der Vorstellung Ingwerlimonade verkauft.

Das Foyer ist eine Karawanserei, an den Wänden Weisheiten fremder Völker – auf Deutsch zum Beispiel von Rilke: „Fänden auch wir ein reines, verhaltenes, schmales Menschliches …“. Die Stirnwand nimmt eine gemalte Weltkarte ein; was ein naiver Blick für alte Handelsstraßen halten könnte, erweist sich bald als Flüchtlingsrouten mit Feuern überall dort, wo es brennt. Unter den Zuschauertribünen schminken sich die DarstellerInnen, repetieren ihren Text oder hören einem Geschichtenerzähler zu. Theater ist ein Fest – dazu gehören die zu reißenden Wasserfluten sich wellenden Tücher ebenso wie die fliegenden Requisiten und die herbeieilenden Helfer zwischen den Szenen. Das ist Mnouchkine pur: dieses zauberhafte Eilen über die Bühne, den Wattebausch vom Schminken noch in der Hand. Diese Kraft, die den Kurden in der französischen Krankenstation dazu bringt, die Krücke quer zum Mund zu nehmen und auf ihr zu spielen wie auf einer Flöte. Auf Rollwagen werden die Kulissen hereingefahren, eine Box für die Liebeslaube in Teheran, eine Box für die Unterkunft in Sangatte: Der Container hat nun auch auf französischen Bühnen Einzug gehalten und zeigt klar das Gefangensein zu Hause wie im Exil.

Auch die Figuren werden auf Rollplateaus hereingestoßen: Keiner ist Herr seiner Wege. Zugleich schafft Mnouchkine so szenische Distanz, was der Erzählung bekommt, denn sie neigt zum Holzschnittartigen. Einem leuchtenden Morgenland steht die Nacht von Sangatte gegenüber, in immergleichem Schnitt und Gegenschnitt. Im Maß, wie die Flüchtlinge vom gelobten Land im Westen enttäuscht sind und ihre verlorene Heimat idealisieren, folgen sich in den Szenen Zorn, Anklage, Wehmut und Sentimentalität. Das ist pathetisch (und der dickflüssige Soundtrack steuert nicht dagegen), aber das ist nicht das Problem. Pathos ist dem Sujet nicht unangemessen, und Mnouchkine baut szenische Korrektive ein – Verfremdungen, Brechungen, dass sich unter die authentischen Berichte unversehens eine flunkernde Geschichte aus Tausendundeiner Nacht mischt.

Bleibt ein dramaturgisches Problem. Die bewegliche Masse des Materials – über 300 Improvisationen hat die Truppe erarbeitet, übrig geblieben sind rund 90 Szenen, die in wechselnder Auswahl gespielt werden – bündelt sich nicht zur stringenten Dramaturgie. Die Puzzleteile fügen sich nicht zum Ganzen, es bleibt trotz starker Einzelbilder bei einer beliebigen Abfolge von Aperçus. Am Ende sprengen die vielen Leben dann doch die Form der Kunst – und vielleicht ist das sogar gut. ANDREAS KLAEUI

Cartoucherie de Vincennes, Vorstellungen Do.–So., www.theatre-du-soleil.fr