„Wenn gar keiner schuldig gesprochen wird, verstehe ich die Welt nicht mehr“

AUS ÜBERSEE (CHIEMSEE) JÖRG SCHALLENBERG

Die braunen Haare sind frech hochgestrubbelt, darunter blicken die hellen Augen eines hübschen Jungengesichts herausfordernd in die Kamera. Das Bild steht als Erinnerung auf einem Ofensims im Wohnzimmer. Es scheint, als wenn Sebastian auf dem Foto probiert habe, ein bisschen verwegen auszusehen. Das hätte gepasst zu dem 14-Jährigen, der in seinem Jahrgang als sechstbester Nachwuchsrennfahrer vom Deutschen Ski-Verband geführt wurde. Seine Eltern kamen schon lange nicht mehr hinterher, wenn Sebastian ins Tal raste. Nur einmal war er zu langsam. Da verpasste er am österreichischen Kitzsteinhorn „nur ganz knapp die Seilbahn davor“, sagt seine Mutter Ursula Geiger. Die Bahn danach, in der Sebastian ganz vorne stand, war jener Zug, in dem am 11. November 2000 im Skiort Kaprun 151 Menschen verbrannten. Drei weitere starben in der Bergstation, einer im entgegenkommenden Zug.

Heute werden vor dem Landesgericht Salzburg die Urteile gegen 16 Angeklagte gesprochen, die beschuldigt sind, für das schlimmste Bergbahnunglück in der österreichischen Geschichte verantwortlich zu sein. Ursula Geiger wird sich an diesem Morgen in ihr Auto setzen und die knapp 50 Kilometer aus ihrem Heimatort Übersee am Chiemsee hinüber nach Salzburg fahren, wo das Gericht wegen des großen Andrangs im Kolpinghaus tagt. Die 42-Jährige kennt den Weg im Schlaf, sie ist ihn an fast jedem Verhandlungstag in den letzten 20 Monaten gefahren. Sie hat einen Prozess verfolgt, dessen Verlauf sie immer wütender und manchmal auch verzweifelt gemacht hat. Sie hat, sagt sie, „schon tief durchschnaufen müssen, wenn man da reingeht – und sieht an den Blicken von der Anklagebank: Ach Gott, die schon wieder.“

Alles nach Vorschrift

Die Verteidiger haben für alle Beschuldigten vom Ministerialrat aus dem österreichischen Verkehrsministerium über den technischen Direktor und den Betriebsleiter der Gletscherbahn bis hin zu Vertretern verschiedener Firmen und des TÜV Freispruch beantragt.

Für Ursula Geiger wäre das ein Schock: „Ich weiß nicht, was ich mache, wenn gar keiner schuldig gesprochen wird. Dann verstehe ich die Welt nicht mehr.“ Die drahtige Frau, deren Züge hart geworden sind über die letzten Jahre, kann nicht begreifen, dass niemand Schuld haben soll an einer Katastrophe, die ganz offensichtlich durch unfassbare Schlamperei ausgelöst wurde.

Lange Zeit war es ein völliges Rätsel, warum die Standseilbahn mitten in einem Tunnel Feuer gefangen hatte. Erst nach und nach konnten Staatsanwaltschaft und Gericht rekonstruieren, dass offenbar ein Materialfehler in einem Heizlüfter dazu führte, dass eine Befestigung brach und der bis zu 600 Grad heiße so genannte Heizstern gegen das ihn umgebende Kunststoffgehäuse fiel – das aber nur für Temperaturen bis zu 300 Grad ausgelegt war und schnell brannte.

Vom Hersteller, der deutschen Firma „Fakir“, sitzt niemand auf der Anklagebank. Das Unternehmen hat sich erfolgreich darauf berufen, dass Heizlüfter dieses Typs laut Betriebsanleitung nicht in ein Fahrzeug eingebaut werden dürfen. Die Gletscherbahn-Betreibergesellschaft wiederum verweist darauf, dass der ausgebrannte Zug laut Definition kein Fahrzeug sei, da er über keinen eigenen Antrieb verfügt.

So lief der gesamte Prozess ab. Jeder schob die Verantwortung dem anderen zu, bis sie am Ende keiner mehr hatte. Auch nicht jene Techniker, die den Heizlüfter direkt neben einer Bremsleitung anbrachten – was die Katastrophe erst möglich machte. Denn das Feuer brachte die Leitung zum Bersten, 160 Liter leicht brennbares Hydrauliköl wurden mit enormem Druck fein zerstäubt in die Flammen geschleudert und sorgten binnen Sekunden für ein Inferno.

Doch es existiert keine Vorschrift, nach der es verboten wäre, einen Billig-Heizlüfter direkt vor eine Leitung zu montieren, durch die ein Schmierstoff fließt, dessen Hersteller ausdrücklich vor der hohen Brennbarkeit warnt. Dass anscheinend niemand auch nur den einen Moment nachgedacht hat, den es braucht, um dort eine Gefahrenquelle zu erkennen, das kann die Justiz nicht bestrafen. Auch nicht, dass es keine Feuerlöscher in den Wagen gab, dafür aber eine Brandversicherung für den Zug abgeschlossen worden war. So kam es, dass einer der Verteidiger im Plädoyer resümierte: „Es war ein für alle unvorhersehbares Ereignis, für das niemandem Schuld angelastet werden kann.“ Ein Kollege von ihm verstieg sich zu der Behauptung: „Der liebe Gott hat es wohl so gewollt.“

Bei diesem verbalen Schulterzucken geht Ursula Geiger in die Luft: „Es ist für mich das Schlimmste, dass nie auch nur einer den Mut hatte, seine Schuld zu bekennen. Dass sich der Pressesprecher der Gletscherbahn hinstellt und einfach sagt: Wir haben keine Schuld.“ Immer wieder kehren ihre Gedanken im Gespräch zu diesem Satz zurück, den sie wie ein Mantra vor sich hinspricht. „Wie“, fragt Ursula Geiger, „wie kann man sich bei 155 Toten hinstellen und so arrogant sagen: Wir haben keine Schuld.“

Gewissen und Geld

Doch wer seinem Gewissen Luft machen will und auch nur einen Hauch von Mitverantwortung eingesteht, der läuft Gefahr, später allein Schadenersatz und Schmerzensgeld in Millionenhöhe bezahlen zu müssen.

Denn auf das Strafverfahren, das aller Voraussicht nach noch eine Berufungsverhandlung nach sich zieht, folgen Zivilprozesse, in denen es um die Ansprüche der Angehörigen geht. Davon verspricht sich Ursula Geiger mehr als von der bisherigen Gerichtsverhandlung, bei der einer der wichtigsten und kritischsten Gutachter sein Mandat nach heftigen Anfeindungen der Verteidigung aus gesundheitlichen Gründen zurückgab, bei der mitten im Verfahren plötzlich wichtige Dokumente aus dem Innenministerium auftauchten, die anscheinend über Monate zurückgehalten wurden, bei der die Staatsanwältin, die gegen eine Riege hochkarätiger Verteidiger völlig auf sich allein gestellt ist, während einer Verhandlungspause in Tränen ausbricht, wie mehrere Prozessbeteiligte beobachtet haben.

„Im Zivilverfahren können wir selbst Gutachter benennen und Anträge einbringen“, hofft Ursula Geiger. Bislang konnte sie fast nur zuschauen, obwohl sie wie eine ganze Reihe weiterer Angehöriger aus Deutschland über den Berliner Anwalt Michael Witti als Nebenklägerin vertreten ist. Doch sämtliche Beschuldigte haben bereits zu Beginn des Strafprozesses im Juni 2002 erklärt, auf keine Frage der Nebenklage zu antworten – angeblich, um „eine Versachlichung des Verfahrens zu erreichen“, wie der Wiener Rechtsprofessor Wolfgang Brandstätter, wohl der prominenteste Verteidiger, erklärte.

Bei den Angehörigen hat diese Haltung nur jene grenzenlose Verbitterung verstärkt, die sich bereits in der ersten Zeit nach der Katastrophe einstellte, als es zunächst weder irgendwelche Informationen über den Unglücksverlauf noch irgendein Wort des Bedauerns von Seiten der Gletscherbahn Kaprun gab. Ursula Geiger beklagt den „grenzenlosen Zynismus der Verantwortlichen, die für nichts verantwortlich gewesen sein wollen“.

In ihrem Wohnzimmer in Übersee, in dem das Foto von Sebastian steht, zeigt sie Schreiben von Anwälten der Gletscherbahn-Gesellschaft, die kategorisch bestreiten, „dass ihr Sohn jemals ein erfolgreicher Skirennläufer geworden wäre“, um jedweden Regressforderungen vorzubeugen. Außerdem, heißt es in einem anderen Schreiben, seien Schmerzensgeldzahlungen nicht vorgesehen, weil die im Tunnel verbrannten Menschen sofort durch Gase ohnmächtig geworden seien und nicht gelitten hätten.

Sebastian, sagt Ursula Geiger, „wurde unmittelbar neben der vorderen Zugtür gefunden, er hat es noch geschafft, einen Schritt aus der Tür herauszukommen“. Andere kämpften sich eine schmale Treppe im Tunnel hoch, ehe das Feuer und der Rauch sie einholten. Einer der wenigen Überlebenden hat berichtet, wie ein Mädchen ihrem Vater zugerufen hat: „Papa, ich brenne!“ 38 der Opfer vom Kaprun kamen aus Deutschland, die meisten aus dem Chiemgau oder der Gemeinde Vilseck in der Oberpfalz.

Für deren Angehörige ist Ursula Geiger inzwischen zu einer Art Sprecherin geworden, die sie über das Geschehen aus dem Gerichtssaal unterrichtet und den Kontakt zu dem nicht unumstrittenen Anwalt Michael Witti hält. Der hat inzwischen auch eine Schadenersatzklage in den Vereinigten Staaten durchgesetzt (siehe Kasten), von der sich Ursula Geiger „nicht irgendwelche Irrsinnssummen erhofft“. Aber sie schätzt das US-Rechtssystem, „weil ein Mensch dort im Gegensatz zu Österreich nicht nur als Leichennummer betrachtet wird“. Doch dieser Prozess hat noch lange nicht begonnen, und heute ist für Ursula Geiger nur der Spruch von Richter Hubert Seiss in Salzburg wichtig. Vielleicht lebenswichtig, um überhaupt weitermachen zu können. Die Staatsanwältin hat bei 15 der 16 Angeklagten auf schuldig plädiert.