Das Gespenst ist wieder da

Der wachsende Antisemitismus in Europa wird in Brüssel zum Seminarthema. Unter den Dozenten ist auch Bundesaußenminister Joschka Fischer

AUS BRÜSSEL GERD RAUHAUS

Als der Holocaustüberlebende Elie Wiesel ans Rednerpult trat, wurde es still im Saal. „Die jüdischen Gemeinschaften in Europa leben in Angst“, mahnte der Nobelpreisträger. „Halten Sie die Ängste nicht für Verfolgungswahn!“

Und das war nicht die schärfste Warnung auf dem gestrigen Antisemitismus-Seminar in Brüssel, zu dem die Europäische Union, der Europäische Jüdische Kongress (EJK) und die Konferenz europäischer Rabbiner eingeladen hatten. Auf der Rednerliste standen neben Wiesel Außenminister Joschka Fischer und der israelische Minister Natan Sharansky. Außerdem war aus Israel der ehemalige Parlamentspräsident Avraham Burg angereist.

In seiner Rede bestätigte Außenminister Joschka Fischer, dass sich Juden in den letzten Jahren mehr und mehr überlegen, wann sie Europa verlassen werden. Der Grund dafür seien nicht nur Schändungen von Synagogen und Friedhöfen. Auch auf den Straßen in Paris würde in der jüngsten Zeit wieder offen gerufen: „Tod den Juden!“, so einer der Redner. Diese Beispiele seien allerdings nur die extremsten Auswirkungen des wieder aufgeflammten Antisemitismus.

Die neue Welle von Hass und Verachtung äußert sich auch in subtileren Formen, in der Haltung zum Konflikt im Nahen Osten beispielsweise. „Man hasst den Juden, weil er Jude ist“, sagt Elie Wiesel und meint jene Rassisten und Fremdenfeinde, die dumpf von ihren Vorurteilen leben. „Es gelingt uns nicht, zu leben wie alle anderen“, sagt EJK-Präsident Cobi Benatoff. „Das Gespenst ist wieder in unserer Mitte.“

Noch vor einer Weile hatte es so ausgesehen, als würde der Kongress gar nicht stattfinden. Eigentlich hatte EU-Kommissionspräsident Romano Prodi die Sache abblasen wollen, nachdem Benatoff und der Präsident des Jüdischen Weltkongresses, Edgar Bronfman, ihm öffentlich vorgeworfen hatten, am Antisemitismus in Europa eine Mitschuld zu tragen.

Der Streit hatte sich über eine Studie der Technischen Universität Berlin entsponnen. Die Europäische Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit hatte diese nämlich zunächst nicht veröffentlicht. Der Streit um die Veröffentlichung erhielt dann noch Nahrung durch eine Umfrage des EU-Statistikamts Eurostat, laut der 59 Prozent der EU-Bürger Israel zur größten Gefahr für den Weltfrieden erklärt hatten. Über die Finanzierung palästinensischer Projekte durch die EU gärt es ohnehin zwischen Brüssel und den jüdischen Organisationen.

Im Januar kam es dann zu einer Aussprache zwischen Prodi und Benatoff, bei der der Vorsitzende des Europäischen Jüdischen Kongresses einlenkte. Die Planungen für die schon fast abgesagte Tagung konnten wieder aufgenommen werden.

Auf dem Kongress in Brüssel spielte das gestern alles keine Rolle mehr – jedenfalls nicht vor den Kulissen. Da war Harmonie angesagt. Schon am Vortag hatte Rabbi Iri Leibler, der seine Verwandtschaft in Auschwitz verloren hatte, vor der Presse dafür plädiert, Israel so zu behandeln „wie alle anderen Länder in der Welt“. Was andere Religionen angeht, predigte er Toleranz und Liebe. Religion sei „nicht die Wurzel des Antisemitismus, sondern der Beginn seiner Zerstörung“. Das war auch die Haltung aller Redner auf dem Kongress. Elie Wiesel ließ sich deswegen zu der Bemerkung hinreißen, dass ja alle dasselbe redeten.

Thema aller war deshalb auch die erlaubte, ja in einer Demokratie geradezu erwünschte Kritik an der Politik des Staates. Man müsse nur darauf achten, dass sie nicht in Antisemitismus umschlage. Die Art und Weise, wie Israel in Europa als jüdischer Staat porträtiert werde, erzeuge verbalen Terror, der zu physischem Terror führen könne, hieß es auch auf den Fluren außerhalb des Kongresssaals. Wohl alle waren sich einig, dass nur mit Erziehung und Wissensvermittlung Antisemitismus abgebaut werden könne. Nur durch Bekämpfung des Nichtwissens lasse sich der Teufelskreis des Hasses durchbrechen, meinte René Samuel Sirat von der Konferenz der Europäischen Rabbiner.

Die Lehren aus der Vergangenheit könnten erfolgreich nur gezogen werden, wenn Toleranz zugelassen werde, sagte Joschka Fischer. „Aber nicht wehrlos: Toleranz muss sich gegen Intoleranz zur Wehr setzen“, betonte er. Fischer warnte vor Antisemitismus, der sich hinter vorgeblich gerechtfertigter Kritik an Israel verberge. Die israelische Regierung dürfe kritisiert werden wie jede andere auch. Aber das Existenzrecht Israels dürfe nicht in Frage gestellt werden, sagte Fischer. Dazu gehöre vor allem auch das Recht der Menschen, ohne Angst vor Terror in ihrem Land zu leben.

Fischer betonte in Brüssel, was die EU gegenüber den Palästinensern unternehme, liege auch im Interesse Israels. Würde die EU nicht für die Bezahlung der palästinensischen Verwaltung sorgen, fiele diese sofort in die Hände der radikalislamischen Organisation Hamas, warnte er. Fischer reagierte damit auf Vorwürfe, das Geld der EU für die Palästinenser fließe auch in die Kassen terroristischer Gruppen.

Romano Prodi, der auf der Konferenz Lob für seinen Mut und seine Visionen für ein demokratisches und tolerantes Europa zu hören bekam, wies darauf hin, dass der Wert einer Zivilisation daran zu erkennen sei, wie sie mit ihren Minderheiten umgehe. Er legte einen Katalog von Maßnahmen vor, die nicht nur den Antisemitismus, sondern jede Form der Diskriminierung bekämpfen sollen.